Leben, um davon zu erzählen
sprachen über Poesie, während überall sonst auf der Welt sich die Menschheit der Liebe hingab.
Zu jener Zeit waren alle jung, aber wir fanden immer welche, die noch jünger waren als wir. Die Generationen traten einander auf die Fersen, vor allem bei den Dichtern und den Kriminellen, und kaum war einem etwas gelungen, tauchte bereits ein anderer auf, der drohte, es besser zu machen. Zuweilen stoße ich zwischen alten Papieren auf eines der Bilder der Straßenfotografen, die uns im Atrium der Kirche San Francisco ablichteten, und kann ein mitleidiges Schnauben nicht unterdrücken, denn es scheint so, als seien nicht wir das, sondern unsere eigenen Kinder, in einer Stadt der geschlossenen Türen, in der nichts leicht war, vor allem nicht, den Sonn-tagnachmhtag ohne Liebe zu überleben. In jenem Atrium lernte ich zufällig meinen Onkel José Maria Valdeblánquez kennen; ich meinte, meinen Großvater zu sehen, als er sich mit dem Regenschirm den Weg durch die sonntägliche Menge bahnte, die aus der Kirche strömte. Sein Aufzug entsprach ganz seinem Wesen: Anzug aus schwarzem Tuch, weißes Hemd mit Zelluloidkragen, diagonal gestreifte Krawatte, Weste mit Uhrkette, steifer Hut und goldene Brille. Ich war so gebannt, dass ich mich ihm, ohne es zu bemerken, in den Weg stellte. Drohend erhob er den Regenschirm und herrschte mich, eine Spanne vor meinen Augen, an:
»Kann ich vorbei?«
»Verzeihen Sie«, sagte ich beschämt. »Ich habe Sie mit meinem Großvater verwechselt.«
Er sah mich weiter mit dem Forscherblick eines Astronomen an und fragte mit böser Ironie:
»Und darf man wissen, wer dieser berühmte Großvater ist?«
Verwirrt von der eigenen Impertinenz, sagte ich ihm den vollständigen Namen. Daraufhin senkte er den Regenschirm und lächelte gutlaunig.
»Dann hat die Ähnlichkeit ihren Grund«, sagte er, »ich bin sein Erstgeborener.«
Der Alltag an der Universidad Nacional war leichter zu bewältigen. Ich schaffe es jedoch nicht, mir jene Zeit konkret ins Gedächtnis zurückzurufen, mir ist, als sei ich keinen einzigen Tag lang Jurastudent gewesen, obwohl meine Noten des ersten Studienjahrs - das einzige, das ich in Bogotá beendete -das Gegenteil nahe legen. An der Fakultät gab es weder Zeit noch Gelegenheit, so persönliche Beziehungen wie in der Schule aufzubauen, und nach Ende der Vorlesungen verstreuten sich die Kommilitonen über die ganze Stadt. Die angenehmste Überraschung war, dass Pedro Gómez Valderrama Generalsekretär der juristischen Fakultät war, ein Schriftsteller, den ich von seinen ersten Beiträgen für die Literaturblätter her kannte und der mir dann bis zu seinem frühzeitigen Tod ein guter Freund war.
Mein engster Studienfreund war vom ersten Jahr an Gonzalo Mallarino Botero, der als Einziger daran gewöhnt war, an bestimmte Wunder des Lebens zu glauben, die wahr, aber nicht wirklich sind. Er zeigte mir, dass die juristische Fakultät nicht so steril war, wie ich dachte, als er mich am ersten Tag um sieben Uhr früh aus dem Kurs für Statistik und Demo-grafie herausholte und zu einem poetischen Duell im Uni-vers^tscafé herausforderte. In den toten Vormittagsstunden rezitierte er die Gedichte der spanischen Klassiker, und ich erwiderte mit denen der jungen Kolumbianer, die das Feuer gegen die gespreizte Rhetorik des vorigen Jahrhunderts eröffnet hatten.
Eines Sonntags lud er mich zu sich nach Hause ein, wo er mit seiner Mutter und seinen Brüdern und Schwestern in einer Atmosphäre geschwisterlicher Spannungen lebte, die an rnein Elternhaus erinnerte. Victor, der Älteste, war bereits hauptberuflich ein Theatermann und ein im ganzen spanischen Sprachraum anerkannter Vortragskünstler. Seit ich dem Schutz meiner Eltern entkommen war, hatte ich mich nie mehr irgendwo zu Hause gefühlt, bis ich Pepa Botero kennen lernte, die Mutter der Mallarinos, eine Frau aus Antioquía, die sich auch inmitten der hermetischen Aristokratie von Bogotá nicht hatte verbiegen lassen. Mit ihrer natürlichen Intelligenz und ihrer reichen Sprache hatte sie die unvergleichliche Fähigkeit, genau den Ort zu kennen, an dem unflätige Worte zu ihrem cervantinischen Ursprung zurückkehren. Es waren unvergessliche Abende, wenn beim Duft der heißen Schokolade und der warmen Käseküchlein die Dunkelheit über die endlos smaragdene Savanne hereinbrach. Durch Pepa Boteros unbekümmerte Sprechweise und ihre Art, die Dinge des gewöhnlichen Lebens auszudrücken, habe ich Unschätzbares für eine neue Rhetorik
Weitere Kostenlose Bücher