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Leben, um davon zu erzählen

Leben, um davon zu erzählen

Titel: Leben, um davon zu erzählen Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Gabriel García Márquez
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Die Straßenleser hatten zudem die Möglichkeit, die ihrer Ansicht nach guten Nachrichten mit Ovationen zu begrüßen und jene, die ihnen missfielen, auszupfeifen oder mit Steinwürfen auf die Tafel zu quittieren. Das war eine unmittelbare Form der demokratischen Willensäußerung und für den Espectador das beste Thermometer, um das Fieber der öffentlichen Meinung zu messen.
    Es gab noch kein Fernsehen, dafür ausführliche Rundfunknachrichten, aber nur zu festgelegten Zeiten, so dass man, bevor man mittags oder abends zum Essen ging, noch auf die Tafel wartete, um mit einem vollständigeren Überblick über die Welt heimzukommen. Vor dieser Tafel verfolgte man auch mit beispielhafter und unvergesslicher Gewissenhaftigkeit den einsamen Flug des Kapitän Concha Venegas von Lima nach Bogotá. Wenn es um solche Nachrichten ging, wurde die Tafel mehrmals außerplanmäßig ausgetauscht, um die Neugier des Publikums mit Extrabulletins zu nähren. Von den Straßenlesern der einzigartigen Zeitung wusste keiner, dass der Erfinder und Sklave dieser Idee José Salgar war, der mit zwanzig als Frischling in die Redaktion von El Espectador gekommen war und nur mit Grundschulausbildung einer der großen Journalisten wurde.
    Die wichtigste Institution in Bogotá waren die Cafés im Zentrum, in denen früher oder später das Leben des ganzen Landes zusammenströmte. Jedes von ihnen genoss zeitweise einen besonderen Ruf, der etwas mit Politik, Literatur oder dem Finanzwesen zu tun hatte, so dass ein großer Teil der kolumbianischen Geschichte jener Zeit in irgendeiner Beziehung zu den Cafés stand. Man wählte sein Lieblingscafé als untrügliches Zeichen der eigenen Identität.
    Schriftsteller und Politiker der ersten Jahrhunderthälfte -darunter auch der eine oder andere Staatspräsident - waren in den Cafés der Galle Catorce, gegenüber von ihrem Gymnasium, dem Colegio del Rosario, zur Schule gegangen. Eines der dauerhaftesten war das Café Windsor, das seine Epoche der großen Politiker hatte und dem großen Karikaturisten Ricardo Rendon als Zuflucht diente. Er arbeitete dort an seinem Werk und schoss sich Jahre später auf der Gran Via eine Revolverkugel durch sein geniales Hirn.
    Die Kehrseite meiner vielen langweiligen Nachmittage war dann die zufällige Entdeckung eines Musiksaals in der Nationalbibliothek, der für das Publikum geöffnet war. Er wurde mein liebster Zufluchtsort, und ich konnte dort im Schutz der großen Komponisten lesen, deren Musik wir schriftlich bei einer entzückenden Angestellten bestellen konnten. Die regelmäßigen Besucher entdeckten untereinander Wahlverwandtschaften aller Arten durch die Musik, die man jeweils bevorzugte. Viele meiner Lieblingsautoren lernte ich auf diese Weise begleitet von fremden Vorlieben kennen, die vielfältig und abwechslungsreich waren, und ich hasste über Jahre Chopin, weil ein unerbittlicher Melomane ihn ohne Erbarmen fast täglich bestellte.
    Eines Tages war der Saal leer, weil etwas an der Anlage kaputt war, die Direktorin erlaubte mir jedoch, mich hineinzusetzen und in der Stille zu lesen. Zunächst fühlte ich mich wie in einem friedlichen Port, es gelang mir aber zwei Stunden lang nicht, mich auf meine Lektüre zu konzentrieren, weil mich immer wieder die Unruhe überkam und ich mich in der eigenen Haut fremd fühlte. Es dauerte mehrere Tage, bis ich merkte, dass nicht die Stille das Heilmittel für meine Unruhe war, sondern die Musik, die sich seitdem zu einer quasi heimlichen Leidenschaft entwickelt hat, für immer.
    Sonntagnachmittags, wenn der Saal geschlossen wurde, war meine erbaulichste Unterhaltung, in einer der Straßenbahnen zu fahren, die für fünf Centavos zwischen der Plaza de Bolívar und der Avenida Chile unentwegt ihre Runden drehten, und hinter den blau getönten Scheiben jene Nachmittage der Adoleszenz zu verbringen, die eine endlose Schleppe vieler anderer verlorener Sonntage hinter sich her zu ziehen scheinen. Während dieser Fahrt im Teufelskreis las ich nur Gedichte, vielleicht eine Strophe pro Häuserblock, bis im ewigen Nieselregen die ersten Lichter aufleuchteten. Dann ging ich durch die verschwiegenen Cafés der Altstadt, auf der Suche nach irgendjemandem, der sich meiner erbarmte und mit mir über die Gedichte sprach, die ich gerade gelesen hatte. Manchmal fand ich einen - immer war es ein Mann -, und wir hockten bis weit nach Mitternacht in irgendeiner finsteren Kneipe, zündeten die Kippen wieder an, die wir geraucht hatten, und

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