Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Leben, um davon zu erzählen

Leben, um davon zu erzählen

Titel: Leben, um davon zu erzählen Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Gabriel García Márquez
Vom Netzwerk:
erzählt hatte, dass ich Erzählungen in El Espectador veröffentlicht hatte, und er versprach mir, sie zu lesen. Leider fand wenige Wochen später der Volksaufstand vom 9. Juli statt, so dass ich die brennende Stadt verlassen musste. Als ich vier Jahre später nach Bogotá zurückkehrte, lag El Molino in Staub und Asche, und der Meister war mit seinen Siebensachen und seinem Hofstaat von Freunden ins Café Automático umgezogen, wo wir über Bücher und Aguardiente zueinander fanden und er mir beibrachte, kunst- und glücklos die Schachfiguren zu bewegen.
    Meine Freunde aus der ersten Zeit verstanden nicht, warum ich mich darauf verlegte, Erzählungen zu schreiben, und auch ich konnte es mir nicht erklären, lebte ich doch in einem Land, in dem die Lyrik als höchste Kunst galt. Das hatte ich schon als Kind am Erfolg von Miseria humana, Menschliches Elend, ermessen können, einem populären Gedicht, das in billigen Heftchen verkauft oder für zwei Centavos auf den Märkten und Friedhöfen der karibischen Dörfer rezitiert wurde. Romane gab es dagegen nur wenige. Seit Maria von Jorge Isaacs waren zwar eine ganze Reihe geschrieben worden, doch ohne größere Resonanz geblieben. Mit seinen zweiundfünfzig Romanen, die direkt ins Herz der Armen zielten, galt José Maria Vargas Vila als außergewöhnliches Phänomen. Er war ein unermüdlicher Reisender und schleppte in seinem übermäßigen Gepäck die eigenen Bücher mit, die dann an den Eingängen seiner Hotels in Lateinamerika und Spanien ausgestellt wurden und wie warmes Brot weggingen. Aura o las violetas, sein Starroman, brach mehr Herzen als viele bessere Bücher seiner Zeitgenossen.
    Die wenigen Romane, die ihre Zeit überlebten, waren El carnero, den der Spanier Juan Rodríguez Freyle mitten in der Kolonialzeit von 1600 bis 1638 schrieb, ein so maßlos und frei gestalteter Bericht über die Geschichte von Neu Granada, dass er nunmehr als fiktionales Meisterwerk gilt; ferner Maria von Jorge Isaacs, 1867 erschienen; DerStrudel von José Eustasio Rivera aus dem Jahr 1924; Die Marquise von Yolombó von Tomás Carrasquilla von 1926 und Eduarde Zalameas Cuatro años a bordo de mi mismo, das 1934 erschien. Keiner dieser Autoren erhaschte auch nur einen Zipfel des Ruhmes, den so viele Lyriker zu Recht oder Unrecht genossen. Die Erzählung hingegen hatte - trotz eines so bedeutenden Vorläufers wie Carrasquilla, dem großen Schriftsteller aus Antioquía - an den Riffen einer seelenlosen Rhetorik Schiffbruch erlitten.
    Der Beweis dafür, dass mein Talent sich aufs Erzählen beschränkte, war die Flut von Versen, die ich unsigniert oder unter Pseudonym im Liceo zurückließ, da ich nie die Absicht gehabt hatte, für sie zu sterben. Mehr noch: Als ich die ersten Erzählungen in El Espectador veröffentlichte, beanspruchten viele diese Gattung für sich, obwohl sie auf Grund ihrer Texte dazu nicht wirklich berechtigt waren. Heute meine ich, dass dies aus den Lebensumständen in Kolumbien erklärlich ist, die in vielerlei Hinsicht noch die des vorigen Jahrhunderts waren. Vor allem im düsteren Bogotá der vierziger Jahre, das sich, als ich mich gegen meinen Wunsch und Willen an der Universidad Nacional immatrikulierte, noch immer nach der Kolonialzeit zurücksehnte.
    Um das zu erkennen, musste man nur in das neuralgische Zentrum an der Carrera Séptima und der Avenida Jiménez de Quesada eintauchen, ein Ort, der in Bogotánischer Maßlosigkeit zur wichtigsten Straßenecke der Welt erklärt worden war. Wenn die Uhr am Turm von San Francisco zwölf Uhr mittags schlug, blieben die Männer auf der Straße stehen oder unterbrachen ihre Gespräche im Café, um die Uhr nach der offiziellen Zeit der Kirche zu stellen. Rund um diese Straßenkreuzung und in den anschließenden Straßen lagen die beliebtesten Treffpunkte, wo sich zweimal am Tag die Kaufleute, die Politiker und die Journalisten - und die Dichter natürlich - zusammenfanden, alle von Kopf bis Fuß in Schwarz, wie König Philip der Vierte.
    In meiner Studentenzeit konnte man dort noch eine Zeitung lesen, die wohl nur wenige Vorläufer auf der Welt gehabt hat. Es handelte sich, wie in der Schule, um eine schwarze Tafel, die um zwölf Uhr mittags sowie um fünf Uhr abends auf dem Balkon von El Espectador ausgestellt wurde und auf die man die letzten Nachrichten in Kreide schrieb. Um diese Zeit war ein Durchkommen mit der Straßenbahn schwer bis unmöglich, weil dort eine Menschenmenge ungeduldig auf die Neuigkeiten wartete.

Weitere Kostenlose Bücher