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Leben, um davon zu erzählen

Leben, um davon zu erzählen

Titel: Leben, um davon zu erzählen Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Gabriel García Márquez
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Vorhinein verhinderten.
    Manche von denen, die beladen mit edler Kleidung und großen Tuchrollen auf der Schulter aus den Geschäften kamen, ließen Letztere mitten auf der Straße fallen. Ich hob eine auf, staunte, dass sie so schwer war, und musste mich zu meinem großen Schmerz wieder von ihr trennen. Überall auf der Straße stolperten wir über Hausgerät, und das Vorankommen war nicht leicht inmitten all der Flaschen edlen Whiskys und anderer exotischer Getränke, die der Mob mit der Machete köpfte. Mein Bruder Luis Enrique und José Palencia fanden in einem Lager mit guten Kleidungsstücken Überbleibsel der Plünderung, darunter einen himmelblauen Anzug aus bestem Tuch, genau in der Größe meines Vaters, der ihn noch Jahre lang zu feierlichen Anlässen trug. Als einzige zufällige Trophäe trug ich aus dem teuersten Teesalon der Stadt eine Kalbsledermappe davon, in der ich dann in den folgenden Jahren, immer wenn ich mal wieder keinen Platz zum Schlafen hatte, meine Manuskripte mit mir herumschleppte.
    Ich lief in einer Gruppe, die sich auf der Carrera Octava Richtung Capitolio den Weg bahnte, als eine Maschinengewehrsalve die Ersten, die auf die Plaza de Bolívar kamen, hinwegfegte. Die Toten und Verletzten fielen augenblicklich mitten auf der Straße übereinander und stoppten uns jäh. Ein in Blut gebadeter Todgeweihter, der sich aus dem Haufen geschleppt hatte, hielt mich am Hosenbein fest und flehte mich herzzerreißend an:
    »Junger Mann, um Gottes willen, lassen Sie mich nicht sterben!«
    Ich floh in Panik. Seitdem habe ich gelernt, andere Schrecken, eigene und fremde, zu vergessen, aber die Schutzlosigkeit dieser Augen im Lodern des Brandes habe ich nie vergessen. Noch heute staune ich jedoch darüber, dass ich keinen Augenblick lang gedacht habe, mein Bruder und ich könnten in dieser Hölle ohne Gnade sterben.
    Ab drei Uhr nachmittags hatte es einzelne kleine Schauer gegeben, doch nach fünf Uhr brach ein biblischer Platzregen herein, der viele der kleineren Brände löschte und den Schwung der Rebellion minderte. Die Militärgarnison von Bogotá war zu klein, um sich dem Aufstand entgegenzustellen, und löste nur punktuell die erbitterten Menschenmengen auf den Straßen auf. Erst nach Mitternacht trafen Einheiten aus den Nachbarbezirken zur Verstärkung ein, vor allem aus Boyacá, das als Schule der staatlichen violencia einen schlechten Ruf genoss. Bis dahin hatte der Rundfunk aufgewiegelt, aber nicht informiert, für keine Nachricht gab es eine Quelle, und an Wahrheit war nicht zu denken. Die Entsatztruppe eroberte am frühen Morgen das verwüstete Geschäftszentrum zurück, in dem es kein Licht gab außer dem der Brände, der radikalisierte Widerstand hielt sich jedoch noch mehrere Tage mit Heckenschützen, die auf Türmen und Dachterrassen postiert blieben. Zu diesem Zeitpunkt waren die Toten auf den Straßen schon nicht mehr zählbar.
    Als wir zurück zur Pension kamen, stand der Großteil des Zentrums in Flammen. Umgekippte Straßenbahnen und Trümmer von Autos dienten als zufällige Barrikaden. Wir packten die wenigen Sachen, die es lohnten, in einen Koffer, und ich merkte erst später, was ich zurückgelassen hatte: die Rohfassungen von zwei oder drei nicht druckbaren Erzählungen, das Lexikon des Großvaters, das ich nie wiederbekam, und das Buch von Diogenes Laercio, den Preis für das beste Abitur.
    Meinem Bruder und mir fiel nichts Besseres ein, als bei Onkel Juanito um Asyl zu bitten, der nur vier Straßen weiter wohnte. Er hatte eine Wohnung im zweiten Stock, die aus einem kleinen Salon, einem Esszimmer und zwei Schlafzimmern bestand. Dort lebte er zusammen mit seiner Frau Dilia Caballero und seinen Kindern Eduardo, Margarita und Nicolás, dem Altesten, der eine Zeit lang bei mir in der Pension untergekommen war. Wir passten kaum alle in die Wohnung, doch die Márquez Caballeros waren so großherzig, Raum bereitzustellen, wo es keinen gab, sogar im Esszimmer, und das nicht nur für uns, sondern auch für unsere Freunde und Pensionsgenossen: José Palencia, Domingo Manuel Vega, Carmelo Martínez - alle aus Sucre -, und für andere, die wir kaum kannten.
    Kurz vor Mitternacht hörte der Regen auf, und wir stiegen auf die Dachterrasse, um das Inferno der Stadtlandschaft zu sehen, die von den Resten der Brände erleuchtet war. Im Hintergrund ragten die Berge Monserrate und La Guadalupe wie zwei Schattenriesen in den rauchbewölkten Himmel, aber ich sah in dem trostlosen Dunst immer nur

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