Leben, um davon zu erzählen
hatte er einen Schuh verloren.
»Zum Palast!«, schrie der Mann in Grau, der nie identifiziert wurde, »zum Palast!«
Die Erregtesten gehorchten dem Befehl. Sie packten den blutigen Körper an den Knöcheln und schleiften ihn unter Schlachtrufen gegen die Regierung über die Carrera Séptima, vorbei an den elektrischen Straßenbahnen, die sich wegen der Ereignisse stauten, bis zur Plaza de Bolívar. Von den Gehsteigen und den Baikonen wurden sie mit Schreien und Applaus angefeuert, während die entstellte Leiche auf dem Straßenpflaster Stoff- und Hautfetzen hinterließ. Viele Menschen schlossen sich dem Marsch an, der kaum sechs Straßen weiter die Größe und die expansive Kraft einer Kriegsoffensive erreichte. Der gemarterten Leiche war nur noch die Unterhose und ein Schuh geblieben.
Die Plaza de Bolívar, die gerade renoviert worden war, hatte mit den gestutzten Bäumen und den primitiven Statuen der neuen staatlichen Ästhetik nicht die Majestät vergangener historischer Freitage. Im Capitolio Nacional, wo seit drei Tagen die Panamerikanische Konferenz tagte, waren die Delegierten zum Mittagessen gegangen. Also drängte die Menge weiter bis zum Präsidentenpalast, der ebenfalls unbewacht war. Dort ließen sie das, was von dem Mann noch übrig war, liegen, nackt, abgesehen von der zerfetzten Unterhose, dem linken Schuh, und zwei unerklärlichen, um seinen Hals geknoteten Krawatten. Ein paar Minuten später traf der Präsident der Republik Mariano Ospina Pérez mit seiner Gattin zum Mittagessen ein; sie kamen von der Eröffnung einer Viehausstellung in der Ortschaft Engativá und wussten noch nichts von dem Mordanschlag, da sie in der Präsidentenlimousine nicht Radio gehört hatten.
Ich blieb noch etwa zehn Minuten am Ort des Verbrechens und staunte darüber, wie schnell die Aussagen der Zeugen sich in Form und Inhalt veränderten, bis sie jede Ähnlichkeit mit der Wirklichkeit verloren hatten. Wir standen zur belebtesten Tageszeit an der Kreuzung Avenida Jiménez und Carrera Séptima und fünfzig Meter von El Tiempo entfernt. Inzwischen wussten wir, dass Gaitán in Begleitung von Pedro Eliseo Cruz, Alejandro Vallejo, Jorge Padilla und Plinio Mendoza Neira, Verteidigungsminister unter der Regierung von Alfonso López Pumarejo, sein Büro verlassen hatte. Mendoza Neira hatte zum Essen eingeladen. Gaitán war ohne jede Eskorte, doch umgeben von einer dichten Gruppe von Freunden aus dem Gebäude gekommen. Als sie das Trottoir erreicht hatten, nahm Mendoza ihn am Arm, führte ihn ein paar Schritte vor die anderen und sagte:
»Was ich dir sagen wollte, ist eine Lappalie.«
Weiter kam er nicht. Gaitán hob den Arm vors Gesicht, und Mendoza hörte den ersten Schuss, bevor er den Mann sah, der mit dem Revolver vor ihnen stand und mit professioneller Kaltblütigkeit dreimal auf den Kopf des politischen Führers feuerte. Einen Augenblick später war schon von einem vierten ziellosen Schuss die Rede, vielleicht von einem fünften.
Plinio Apuleyo Mendoza, der mit seinem Vater und seinen Schwestern Elvíra und Rosa Inés gekommen war, sah gerade noch Gaitán auf dem Pflaster liegen, bevor man diesen eine Minute später in die Klinik brachte. »Er sah nicht wie ein Toter aus«, erzählte er mir Jahre später. »Er wirkte wie eine imponierende Statue, die rücklings auf dem Gehsteig neben einer kleinen Blutlache lag, mit einer großen Trauer in den offenen, starr blickenden Augen.« In der Verwirrung des Augenblicks dachten die Schwestern, dass vielleicht auch ihr Vater tot wäre, und sie waren so verstört, dass Plinio Apuleyo sie in die erste Straßenbahn, die kam, einsteigen ließ, um sie fortzubringen. Doch dem Fahrer wurde klar, was geschehen war, er warf seine Straßenbahnermütze hin und verließ mitten auf der Straße die Trambahn, um in die ersten Rebellionsrufe einzustimmen. Minuten später war dies die erste Straßenbahn, die von der aufgebrachten Menge umgekippt wurde.
Die Aussagen, was die Zahl und die Rolle der Täter anging, waren unvereinbar, weil ein Zeuge versicherte, es seien drei gewesen, die abwechselnd geschossen hätten, und ein anderer behauptete, dass der wahre Schuldige in der aufgeregten Menge untergetaucht und ohne Hast auf eine fahrende Straßenbahn gesprungen sei. Auch darüber, was Mendoza Neira sagen wollte, als er Gaitán am Arm nahm, hat es seitdem unzählige Mutmaßungen gegeben; tatsächlich wollte er Gaitán bitten, in die Gründung eines Schulungsinstituts für Gewerkschaftsführer
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