Leben, um davon zu erzählen
einzuwilligen. Oder, wie sein Schwiegervater ein paar Tage zuvor gespottet hatte: »Eine Schule, in der man dem Chauffeur
Philosophie beibringt.« Mendoza kam nicht dazu, davon zu sprechen, weil vor ihnen der erste Schuss losging.
Fünfzig Jahre später ist meine Erinnerung immer noch auf das Bild eines Mannes fixiert, der die Menge vor der Apotheke aufputschte und dem ich in keinem der unzähligen Zeugnisse, die ich über diesen Tag gelesen habe, begegnet bin. Ich hatte ihn ganz aus der Nähe gesehen, mit seinem edlen Anzug, der alabasterfarbenen Haut und seinem genau kontrollierten Auftreten. Er hatte meine Aufmerksamkeit so sehr gefesselt, dass ich ihn nicht aus den Augen ließ, bis man ihn, kaum war die Leiche des Mörders weggeschleift worden, in einem neuen Automobil abholte. Seitdem war er aus dem historischen Gedächtnis verschwunden. Sogar aus dem meinen. Erst viele Jahre später, in meiner Zeit als Journalist, überfiel mich der Gedanke, dass dieser Mann womöglich erreicht hatte, dass man einen Falschen umbrachte, um die Identität des wahren Mörders zu schützen.
In dem unkontrollierbaren Getümmel befand sich der zwanzigjährige kubanische Studentenführer Fidel Castro, von der Universität Havanna zu einem Studentenkongress delegiert, der als demokratische Alternative zur Panamerikanischen Konferenz einberufen worden war. Castro war etwa sechs Tage zuvor in Begleitung von Alfrede Guevara, Enrique Ovares und Rafael del Pino, drei weiteren kubanischen Studenten, angekommen und hatte sich gleich um ein Treffen mit dem von ihm bewunderten Jorge Eliecer Gaitan bemüht. Zwei Tage später kam es zu einer Begegnung zwischen Castro und Gaitan, und dieser verabredete sich mit ihm für den kommenden Freitag. Gaitan trug den Termin mit eigener Hand für den 9. April in seinen Bürokalender ein: »Fidel Castro, 14 Uhr«.
Nach Fidels Aussagen in mehreren Medien und dem, was er mir bei unseren endlosen Gesprächen alter Freunde über das Ereignis erzählt hat, erhielt er die erste Nachricht von dem Verbrechen, als er sich in der Nähe des Gebäudes herumtrieb, um pünktlich zu dem Zwei-Uhr-Termin da zu sein. Plötzlich wurde er von den ersten haltlos rennenden Trupps und dem allgemeinen Schrei überrascht:
»Sie haben Gaitan umgebracht!«
Erst später wurde Fidel Castro bewusst, dass das Treffen auf keinen Fall vor vier oder fünf Uhr nachmittags hätte stattfinden können, weil Mendoza Neira Gaitán ja überraschend zum Essen eingeladen hatte.
Am Tatort drängten sich die Menschen. Der Verkehr war unterbrochen, die Straßenbahnen umgekippt, und ich lief Richtung Pension, um mein Mittagessen zu beenden, als mich mein Lehrer Carlos H. Pareja vor der Tür zu seinem Büro abfing und mich fragte, wohin ich ginge.
»Ich gehe essen«, sagte ich.
»Erzähl keinen Scheiß«, meinte er in seiner unverbesserlichen karibischen Weise. »Wie kannst du essen, wenn Gaitán gerade umgebracht worden ist?«
Ohne mir für weiteres Zeit zu lassen, befahl er mir, zur Universität zu gehen und mich an die Spitze des Studentenprotestes zu stellen. Das Merkwürdige war, dass ich ihm, ganz gegen meine Art, gehorchte. Ich lief die Carrera Séptima weiter Richtung Norden, in Gegenrichtung zu der Menge, die von Neugier, Schmerz oder Wut getrieben, zur Straßenkreuzung des Verbrechens drängte. Die Universitätsbusse, von Studenten gelenkt, führten den Zug an. Am Parque Santander, hundert Meter vom Tatort entfernt, waren die Angestellten des Hotels Granada, des ersten der Stadt, in dem in diesen Tagen einige Außenminister und Ehrengäste der Panamerikanischen Konferenz logierten, gerade dabei, hastig die Portale zu schließen.
An allen Ecken tauchten neue Haufen von eindeutig kampfbereiten armen Leuten auf. Viele davon waren mit Macheten bewaffnet, die sie gerade bei den ersten Überfällen auf Geschäfte gestohlen hatten, und schienen begierig, sie einzusetzen. Ich hatte keine klaren Vorstellungen von den möglichen Konsequenzen des Attentats, und das Mittagessen bewegte mich mehr als der Protest, aso machte ich kehrt und ging zur Pension. Mit großen Schritten erklomm ich die Treppe und war davon überzeugt, dass meine politisierten Freunden auf dem Kriegspfad wandelten. Aber nein: Der Speisesaal war noch immer leer, und mein Bruder und José Palencia, die in dem Zimmer nebenan wohnten, sangen dort gemeinsam mit anderen Freunden.
»Sie haben Gaitán ermordet!«, schrie ich.
Sie bedeuteten mir, dass sie das schon wüssten,
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