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Leben, um davon zu erzählen

Leben, um davon zu erzählen

Titel: Leben, um davon zu erzählen Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Gabriel García Márquez
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untröstliche Klagen eines kranken Vogels zu hören, der nicht von dieser Welt sein konnte. Plötzlich überkam mich das Verlangen zu rauchen und zugleich das Verlangen zu lesen, zwei Laster, die sich mir in meiner Jugend ob ihrer Dreistigkeit und Zähigkeit vermengten. Huxleys Roman Kontrapunkt des Lebens, den ich im Flugzeug wegen meiner physischen Angst nicht hatte weiterlesen können, schlummerte in meinem weggeschlossenen Koffer. Also zündete ich die letzte Zigarette mit einer seltsamen Mischung aus Erleichterung und Schrecken an und rauchte sie nur halb, um eine Reserve für diese Nacht ohne Morgen zu haben.
    Als ich schon in der Verfassung war, auf meiner Bank schlafen zu wollen, kam es mir plötzlich so vor, als ob sich etwas zwischen den dichten Schatten der Bäume versteckte. Es war das Reiterstandbild von Simon Bolívar. Kein Geringerer: General Simon Antonio de la Santísima Trinidad Bolívar y Palacios, mein Heros, seitdem der Großvater es mir verordnet hatte, in glänzender Galauniform und mit dem Kopf eines römischen Imperators, auf den die Schwalben geschissen hatten.
    Er war weiterhin mein Held, unvergessbar, trotz oder vielleicht gerade wegen seiner unverbesserlichen Inkonsequenz. Schließlich war sie kaum mit der zu vergleichen, mit der mein Großvater sich den Rang eines Obersts erkämpft und dabei so oft sein Leben aufs Spiel gesetzt hatte, in Kriegen, die von den Liberalen gegen eben jene konservative Partei geführt wurden, die Bolívar gegründet und gefördert hatte. In solchen Sternennebeln bewegte ich mich, als hinter mir eine schneidende Stimme ertönte, die mich zurück auf den Boden brachte:
    »Hände hoch!«
    Ich hob sie erleichtert, in der Gewissheit, dass endlich meine Freunde da waren, sah mich aber dann zwei ungeschlachten und eher zerlumpten Polizisten gegenüber, die mit ihren neuen Gewehren auf mich zielten. Sie wollten wissen, warum ich mich nicht an die Ausgangssperre hielt, die zwei Stunden zuvor begonnen hatte. Ich wusste gar nicht, dass sie, wie die Polizisten mir mitteilten, am Sonntag zuvor erlassen worden war, hatte auch kein Signalhorn oder Glocken gehört, noch hatte es irgendeinen Hinweis gegeben, der mich darauf gebracht hätte, warum niemand auf der Straße war. Die Beamten wirkten eher träge als verständnisvoll, als sie meine Ausweispapiere entgegennahmen, während ich ihnen erklärte, warum ich mich hier aufhielt. Sie gaben mir die Papiere unbesehen zurück. Sie fragten mich, wie viel Geld ich bei mir hätte, und ich sagte ihnen, nicht ganz vier Pesos. Der Entschlossenere von den beiden bat mich um eine Zigarette, und ich zeigte den angerauchten Stummel, den ich vor dem Schlafen anzünden wollte. Er nahm ihn mir ab und rauchte ihn bis zu den Nägeln. Nach einer Weile packten sie mich am Arm und führten mich die Straße entlang, weniger wegen der gesetzlichen Bestimmung als wegen ihrer Lust zu rauchen, denn sie waren auf der Suche nach einem offenen Lokal, wo man die Zigaretten einzeln für einen Centavo kaufen konnte. Die Nacht war nun klar und frisch unter dem vollen Mond, und die Stille war wie eine unsichtbare Substanz, die man mit der Luft einatmen konnte. Da verstand ich, was mein Vater uns so oft erzählt und wir nie geglaubt hatten, dass er nämlich nach Mitternacht in der Stille des Friedhofs Geige übte, um das Gefühl zu haben, seine Liebeswalzer würden im ganzen Karibikraum zu hören sein.
    Der vergeblichen Suche nach losen Zigaretten überdrüssig, verließen wir die Stadtmauern und gingen zu einem Kai der Küstenschiffe hinter dem öffentlichen Markt, ein belebter Platz, wo die Schoner aus Cura9ao, Aruba und anderen kleinen Antilleninseln festmachten. Dort amüsierten sich nachts sehr lustige und nützliche Menschen, die aufgrund ihres Berufs trotz der Ausgangssperre ein Recht auf einen Passierschein hatten. Sie aßen bis in die Früh unter freiem Himmel in einer Gaststätte mit guten Preisen und noch besserer Gesellschaft, weil dort nicht nur die Nachtarbeiter landeten, sondern alle, die etwas essen wollten, wenn es nirgendwo mehr etwas gab. Das Lokal hatte keinen richtigen Namen und war unter einem bekannt, der überhaupt nicht passte: La Cueva - die Höhle.
    Die Polizisten waren hier wie zu Hause. Offensichtlich kannten sich die an den Tischen sitzenden Gäste schon seit eh und je und waren froh, zusammen zu sein. Es war unmöglich, einen Nachnamen aufzuschnappen, denn alle nannten sich bei den Spitznamen aus der Schulzeit und redeten laut

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