Leben, um davon zu erzählen
kauerte mich hin, bis eine ältere Frau, die neben mir lief, mir zurief:
»Bete La Magnifical«
Das Geheimgebet also, um den Teufel zu bannen, von der Kirche abgelehnt, aber von den großen Gottlosen zur Weihe erhoben, wenn sie mit Blasphemien nicht weiterkamen. Als die Frau merkte, dass ich nicht beten konnte, packte sie meinen Koffer an dem anderen Riemen und half mir beim Tragen.
»Bete mit mir«, sagte sie, »aber recht fromm, bitte schön.«
Dann sagte sie mir La Magnifica vor, Vers für Vers, und ich wiederholte jeden einzelnen mit einer Inbrunst, die ich nie wieder verspürt habe. Auch wenn ich es heute kaum glauben kann: Noch bevor wir das Gebet beendet hatten, verschwand der Schwärm von Fledermäusen vom Himmel. Zurück blieb nur die endlose Wucht des Meeres an den Klippen.
Wir erreichten die Puerta del Reloj, das große Stadttor. Hundert Jahre lang hatte dort eine Hebebrücke die Altstadt mit dem Getsemaní-Viertel und den dicht gedrängten Hütten der Armen in den Mangrovenwäldern verbunden, die Brücke wurde jedoch um neun Uhr abends hochgezogen, und die Bewohner dieser Vororte blieben dann bis Tagesanbruch vom Rest der Welt und auch von der Geschichte abgeschnitten. Es hieß, die spanischen Siedler hätten die Brücke aus Angst davor errichtet, dass die Habenichtse sich um Mitternacht in die Stadt schlichen, um ihnen im Schlaf die Kehle durchzuschneiden. Cartagena musste jedoch etwas von seiner himmlischen Anmut geblieben sein, denn kaum war ich innerhalb der Festungsmauern, lag die Stadt im malvenfarbenen Sechs-Uhr-Abendlicht in alter Pracht vor mir, und das Gefühl überkam mich, wiedergeboren zu sein.
Kein Wunder. Am Anfang der Woche hatte ich, durch einen Sumpf aus Blut und Schlamm watend, Bogotá verlassen, wo zwischen rauchendem Schutt immer noch Berge von Leichen lagen, nach denen niemand fragte. In Cartagena war die Welt plötzlich eine andere. Ich sah keine Spuren des Krieges, der das Land überzog, und es fiel mir schwer zu glauben, dass diese Einsamkeit ohne Schmerz, dieses unermüdliche Meer, dieses maßlose Gefühl, angekommen zu sein, mir kaum eine Woche später im selben Leben widerfuhr.
Ich hatte von Kindheit an so oft davon gehört, dass ich die kleine Plaza, wo die Droschken und die von Eseln gezogenen Lastkarren standen, sofort wiedererkannte, ebenso die Arkaden dahinter, in denen das Marktgetümmel noch dichter und lauter wurde. Obwohl es offiziell nicht eingestanden wurde, war dies der letzte noch pulsierende Kern der alten Stadt. In der Kolonialzeit hieß dieser Platz Portal de los Mercaderes. Von dort aus waren die unsichtbaren Fäden im Sklavenhandel gezogen und die Gemüter gegen die spanische Herrschaft aufgeheizt worden. Später hieß er Portal de los Escribanos, wegen der mürrischen Schönschreiber, die in Tuchjacken und Ärmelschonern Liebesbriefe und alle möglichen Dokumente für die schreibunkundigen Armen verfassten. Viele der Schreiber verkauften unter der Hand auch Bücher, besonders solche, die das Heilige Offizium verdammt hatte, und waren auf diese Weise, so glaubt man, Orakel der kreolischen Verschwörung gegen die spanische Herrschaft. Zu Anfang des 20. Jahrhunderts versuchte mein Vater unter diesen Arkaden seinen poetischen Drang mit dem Schreiben kunstvoller Liebesbriefe zu befrieden. Er hatte allerdings weder mit dem einen noch mit dem anderen Erfolg, da einige gewitzte oder tatsächlich mittellose Kunden ihn nicht nur darum baten, den Brief umsonst zu schreiben, sondern außerdem noch die fünf Reales für die Post von ihm wollten.
Seit einigen Jahren hieß der Platz Portal de los Dulces, die Zeltplanen der Stände waren verrottet, und die Bettler kamen, um dort die Abfälle vom Markt zu essen, und man hörte die Rufe der wahrsagenden Indios, die den Kunden teuer dafür zahlen ließen, dass sie ihm nicht den Tag und die Stunde seines Todes voraussagten. Die Karibik-Schoner blieben länger im Hafen, damit die Passagiere die süßen Plätzchen kaufen konnte, deren Namen von den Frauen, die sie herstellten, selbst erfunden und von den Marktschreiern in Reime gebracht wurden: »Süße Kurien für die Furien, Teufelchen fürs Beutelchen, Kokosschnitten bei Kinderbitten, Panelas für die Manuelas.« Denn die Arkaden waren, im Guten wie im Bösen, immer noch ein lebendiges Zentrum der Stadt, wo hinter dem Rücken der Regierung Staatsangelegenheiten verhandelt wurden; zudem waren sie der einzige Ort der Welt, an dem die Verkäuferinnen von Frittiertem schon
Weitere Kostenlose Bücher