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Leben, um davon zu erzählen

Leben, um davon zu erzählen

Titel: Leben, um davon zu erzählen Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Gabriel García Márquez
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vor dem Präsidenten der Republik wussten, wen er zum nächsten Gouverneur ernennen würde.
    Ich war von dem Durcheinander sofort fasziniert und bahnte mir mühsam mit dem Koffer, den ich hinter mir herschleifte, meinen Weg durch das Menschengewimmel um sechs Uhr abends. Ein zerlumpter alter Mann, nur Haut und Knochen, blickte von der Plattform der Schuhputzer mit eisigem Sperberblick auf mich herab. Das ließ mich abrupt anhalten. Kaum hatte er gesehen, dass ich ihn gesehen hatte, bot er sich an, mir den Koffer zu tragen. Ich bedankte mich, doch dann erklärte er in seiner Muttersprache:
    »Das macht dreißig Chivos.«
    Unmöglich. Dreißig Centavos für einmal Kofferschleppen, das war eine Attacke auf die vier Pesos, die mir reichen mussten, bis meine Eltern nächste Woche Nachschub schickten.
    »So viel ist ja der ganze Koffer samt Inhalt wert«, sagte ich.
    Außerdem war die Pension Sabana, wo die Clique aus Bogotá schon warten würde, nicht weit. Der Alte fand sich mit drei Chivos ab, zog seine Holzschuhe aus und hängte sie sich um den Hals, wuchtete sich mit einer für seine alten Knochen unglaublichen Kraft den Koffer auf die Schultern und rannte wie ein barfüßiger Athlet durch einen Hohlweg zwischen den Kolonialbauten, die von Jahrhunderten der Nachlässigkeit angefressen waren. Mein einundzwanzigjähriges Herz schlug mir im Hals, ich musste mich anstrengen, um den greisen Olympioniken, der sicher nur noch wenige Stunden zu leben hatte, nicht aus den Augen zu verlieren. Fünf Straßen weiter eilte er durch das breite Tor des Hotels und strebte, je zwei Stufen auf einmal nehmend, die Treppe hoch.
    Mit nach wie vor ruhigem Atem stellte er den Koffer auf den Boden und streckte mir die Handfläche entgegen:
    »Dreißig Chivos.«
    Ich erinnerte ihn daran, dass ich schon gezahlt hatte, aber er versteifte sich darauf, dass bei den drei Centavos von den Arkaden die Treppe nicht inbegriffen gewesen sei. Die Wirtin, die herauskam und uns empfing, gab ihm Recht: Die Treppe sei gesondert zu bezahlen. Und ihre Prophezeiung sollte für mein ganzes Leben gültig bleiben:
    »Du wirst schon sehen, in Cartagena ist alles anders.«
    Ich wurde dann auch noch mit der schlechten Nachricht konfrontiert, dass bislang keiner meiner Pensionsgefährten aus Bogotá eingetroffen war, allerdings sei für vier Personen, mich eingeschlossen, reserviert. Wir hatten abgemacht, uns an diesem Tag vor sechs Uhr abends im Hotel zu treffen. Das Umsteigen vom Linienbus auf das riskante Gefährt der Post hatte mir drei Stunden Verspätung eingebracht, doch nun stand ich da, pünktlicher als die anderen, und konnte mit meinen vier Pesos minus dreiunddreißig Centavos nichts anfangen. Denn die Wirtin war eine reizende Pensionsmutter, ihren eigenen Normen aber sklavisch Untertan, was sie in den zwei langen Monaten, die ich bei ihr wohnte, unter Beweis stellen sollte. Sie wollte mich nicht registrieren, solange ich nicht für einen Monat im Voraus gezahlt hatte: achtzehn Pesos für ein Bett im Sechserzimmer und drei Mahlzeiten täglich.
    Unterstützung von meinen Eltern erwartete ich nicht vor einer Woche, also würde mein Koffer nicht über den Treppenabsatz hinauskommen, bis meine Freunde erschienen, die mir aushelfen konnten. Ich setzte mich zum Warten auf einen bischöflichen Sessel mit großen aufgemalten Blumen, den ich nach dem langen Sonnentag auf dem Laster meines Unglücks als Geschenk des Himmels empfand. Tatsächlich gab es in jenen Tagen nichts, was sicher war. Die Verabredung, uns dort an einem bestimmten Tag zu einer bestimmten Uhrzeit zu treffen, zeugte von mangelndem Realitätsbewusstsein, wir wagten einfach nicht, uns einzugestehen, dass im halben Land ein blutiger Krieg tobte, der in der Provinz schon seit Jahren verdeckt geführt wurde und vor einer Woche offen und tödlich in den Städten ausgebrochen war.
    Nach acht Stunden Fahrt war ich im Hotel in Cartagena gestrandet und konnte mir nicht erklären, was mit José Palencia und seinen Freunden geschehen war. Nach einer weiteren Stunde des Wartens ohne Nachricht ging ich hinaus und streunte durch die leeren Straßen. Im April wird es früh dunkel. Die Straßenlaternen brannten schon, doch ihr Licht war so schwach, dass man es mit dem der Sterne zwischen den Bäumen verwechseln konnte. Eine erste zufällige Runde von einer Viertelstunde durch die Winkel der Altstadt reichte aus, um mit einem Gefühl der Erleichterung in der Brust feststellen zu können, dass diese seltsame

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