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Leben, um davon zu erzählen

Leben, um davon zu erzählen

Titel: Leben, um davon zu erzählen Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Gabriel García Márquez
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Stadt nichts mit dem musealen Fossil zu tun hatte, das man uns in der Schule beschrieben hatte.
    Keine Menschenseele war auf den Straßen. Die Mengen, die bei Tagesanbruch aus den Vororten zum Arbeiten oder zum Handeln in die Stadt strömten, kehrten um fünf Uhr nachmittags fluchtartig in ihre Viertel zurück, und die Bewohner des Innenbereichs verschwanden in ihre Häuser, um zu Abend zu essen und bis Mitternacht Domino zu spielen. Private Autos waren noch nicht üblich, und die wenigen Dienstfahrzeuge blieben außerhalb der Stadtmauer. Selbst die Beamten, die etwas auf sich hielten, fuhren noch in den einfachen Bussen aus der lokalen Produktion zur Plaza de los Coches und bahnten sich von da aus per Ellbogen den Weg zu ihren Büros oder sprangen über den auf den Gehsteigen ausgelegten Ramsch. Einer der vornehmsten Gouverneure in jenen tragischen Zeiten brüstete sich damit, von seinem Viertel der Erwählten zur Plaza de los Coches noch mit dem gleichen Bus zu fahren, den er schon als Schüler benutzt hatte.
    Die Erleichterungen durch das Aufkommen der Automobile wurden von der historischen Realität konterkariert: Autos passten nicht in die engen und gewundenen Straßen, in denen nachts die unbeschlagenen Hufe der rachitischen Pferde widerhallten. In Zeiten großer Hitze, wenn man die Balkontüren für die Kühle aus den Parks öffnete, hörte man mit einem gespenstischen Echo Fetzen von intimen Gesprächen. Schläfrige Großeltern vernahmen flüchtige Schritte auf dem Steinpflaster, merkten auf, ohne die Augen zu öffnen, und sagten dann enttäuscht: »Da geht José Antonio, der will zu Cha-bela.« Das Einzige, was die Schlaflosen wirklich verrückt machte, war das Knallen der Dominosteine auf den Tischen, das durch die ganze Altstadt hallte.
    Für mich war es eine historische Nacht. Es gelang mir kaum, in der Realität die schon vom Leben besiegte fiktive Welt aus den Schulbüchern wiederzuerkennen. Es rührte mich zu Tränen, dass die Gebäude, die ich so heruntergekommen vor mir sah, die alten Paläste der Marqueses waren, in deren Eingängen nun die Bettler schliefen. Ich sah die Kathedrale, deren Glocken der Pirat Francis Drake hatte wegschleppen lassen, um Kanonen daraus zu gießen. Die wenigen Glocken, die den Überfall überstanden hatten, unterzog man einem Exorzismus, nachdem sie wegen bösartiger Nebenklänge, die den Teufel herbeiriefen, von den Hexenmeistern des Bischofs eigentlich zum Scheiterhaufen verurteilt worden waren. Ich sah die welken Bäume und die Heldenstatuen, die nicht in vergänglichen Marmor geschlagen schienen, sondern wie tote Leiber wirkten. Denn in Cartagena wurden sie nicht gegen den Zahn der Zeit konserviert, ganz im Gegenteil: Die Zeit wurde für die Dinge konserviert, die jung blieben, während die Jahrhunderte alterten. Bei jedem Schritt, den ich in der Nacht meiner Ankunft tat, enthüllte mir die Stadt ihr Eigenleben, sie war nicht das Pappmachéfossil der Geschichtsschreiber, sondern ein Gebilde aus Fleisch und Blut, das nicht mehr von seinem martialischen Ruhm, sondern von der Würde seiner Ruinen zehrte.
    Mit neuem Mut kehrte ich in die Pension zurück, als es von der Torre del Reloj zehn schlug. Der verschlafene Wächter teilte mir mit, dass keiner meiner Freunde eingetroffen, mein Koffer aber im Depot des Hotels in Sicherheit sei. Erst da wurde mir bewusst, dass ich seit dem schlechten Frühstück in Barranquilla nichts mehr gegessen oder getrunken hatte. Meine Beine waren schwach vor Hunger, aber ich wäre schon zufrieden gewesen, wenn die Wirtin meinen Koffer angenommen hätte und mich diese einzige Nacht im Hotel hätte schlafen lassen, und sei es im Sessel in der Halle. Der Wächter lachte über meine Naivität:
    »Sei keine Schwuchtel«, sagte er in krudem Karibisch zu mir. »Bei so einem Haufen Geld geht diese Madame um sieben Uhr schlafen und steht am nächsten Tag erst um elf wieder auf.«
    Das schien mir so einleuchtend, dass ich über die Straße ging und mich auf eine Bank im Parque de Bolívar setzte, um dort auf meine Freunde zu warten und niemanden zu stören. Die welken Bäume waren im Licht von der Straße kaum zu sehen, denn die Laternen im Park wurden nur an Sonntagen und an großen Feiertagen angezündet. Die Marmorbänke trugen Spuren von Inschriften, die oft entfernt und von frechen Poeten erneuert worden waren. Aus dem Palast der Inquisition mit seiner kolonialen Fassade aus behauenem Stein und dem Tor einer bischöflichen Basilika war das

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