Leben, um davon zu erzählen
Tanzen hatte. Rundherum, versteckt zwischen üppigen Tamarinden, lagen die kleinen Hütten für fünf Pesos die Stunde, vor denen bunt gestrichene Tischchen und Stühle standen, auf denen die Rohrdommeln nach Lust herumspazierten. Die monumentale und fast hundertjährige Eufemia empfing und teilte die Kunden persönlich am Eingang zu, wo sie hinter einem Büroschreibtisch mit dem einzigen unerklärlichen Requisit eines riesigen Kirchennagels saß. Die Mädchen wählte sie selbst nach guten Manieren und natürlichen Gaben aus. Jede gab sich den Namen, der ihr gefiel, manche zogen dann aber den Namen vor, auf den sie Álvaro Cepeda, der für den mexikanischen Film schwärmte, taufte: Irma die Böse, Susana die Perverse, Jungfrau der Mitternacht.
Beim Klang einer karibischen Kapelle, deren Bläser sich ekstatisch und mit voller Lunge den neuen Mambos von Pérez Prado hingaben, und dem Gesang einer Bolerogruppe, bei der man schlechte Erinnerungen vergaß, schien ein Gespräch unmöglich, wir waren jedoch alle darin geübt, uns schreiend zu unterhalten. Das Thema des Abends hatten Germán und Álvaro zur Sprache gebracht, es ging um die Gemeinsamkeiten zwischen Roman und Reportage. Sie waren überwältigt von der Reportage, die John Hershey gerade über die Atombombe von Hiroshima veröffentlicht hatte. Als unmittelbares journalistisches Zeugnis zog ich Die Pest zu London vor, bis mich die anderen darüber aufklärten, dass Daniel Defoe höchstens fünf oder sechs Jahre alt war, als in London die Pest wütete, die ihm als Vorbild diente.
Auf diesem Weg stießen wir zum Geheimnis des Grafen von Monte Christo vor, ein Thema, das die drei schon aus früheren Diskussionen mitschleppten. Es ging um ein Rätsel für Romanciers: Wie hat es Alexandre Dumas geschafft, dass ein naiver, ungebildeter Matrose, arm und zu Unrecht eingekerkert, als der reichste und gebildetste Mann seiner Zeit aus einer ausbruchsicheren Festung fliehen konnte? Die Antwort lautete: Edmond Dantés trug, als er in das Schloss If kam, bereits den Abt Paria in sich. Dieser hatte ihm in der Gefangenschaft die Essenz seiner Weisheit vermittelt und ihm enthüllt, was er für sein neues Leben wissen musste: den Ort, an dem ein märchenhafter Schatz verborgen lag, und den Fluchtweg. Das heißt: Dumas hatte zwei unterschiedliche Figuren entworfen und deren Schicksale dann vertauscht. Also war Dantés bei seiner Flucht bereits eine Figur in einer anderen, und von seinem ursprünglichen Selbst blieb ihm nicht mehr als der Körper eines guten Schwimmers.
Germán war klar, dass Dumas einen Matrosen als Helden gewählt hatte, damit der sich, nachdem man ihn ins Meer geworfen hatte, aus dem Leinensack befreien und zur Küste schwimmen konnte. Der gelehrte Alfonso, für seine scharfe spöttische Art bekannt, warf ein, das sei kein Beweis, da sechzig Prozent der Mannschaft von Christoph Kolumbus nicht hätten schwimmen können. Es befriedigte ihn besonders, wenn er solche Pfefferkörnchen in den Eintopf werfen konnte, um ihm jeden pedantischen Beigeschmack zu nehmen. Ich begeisterte mich derart bei dem literarischen Rätselraten, dass ich begann, den Rum mit Zitrone, den die anderen in genießerischen Schlückchen tranken, in mich hineinzuschütten. Die drei kamen dann zu dem Schluss, dass Dumas' Talent und sein Umgang mit den Fakten in diesem Roman und vielleicht auch in seinem ganzen Werk eher einem Reporter als einem Romancier entsprachen.
Am Ende war mir klar, dass meine neuen Freunde mit ebenso viel Nutzen Quevedo und James Joyce wie Conan Doyle lasen. Sie hatten einen unerschöpflichen Sinn für Humor und konnten ganze Nächte damit verbringen, Boleros und Vallenatos zu singen, oder sie sagten, ohne ins Stottern zu geraten, die besten Gedichte des Siglo de Oro auf. Über unterschiedliche Pfade gelangten wir zu einem Einvernehmen darüber, dass Jorge Manriques Verse zum Tod seines Vaters den Gipfel aller Dichtung darstellten. Die Nacht wurde zu einer köstlichen Erquickungspause für mich und räumte mit den letzten Vorurteilen auf, die meiner Freundschaft mit dieser Clique literarisch Fiebernder im Weg stehen konnten. Ich fühlte mich so wohl mit ihnen und dem barbarischen Rum, dass ich die Zwangsjacke der Schüchternheit abstreifte. Susana, die Perverse, die im März den Tanzwettbewerb beim Karneval gewonnen hatte, forderte mich zum Tanzen auf. Man scheuchte die Hühner und die Rohrdommeln von der Tanzfläche und stellte sich zum Anfeuern in einen Kreis um
Weitere Kostenlose Bücher