Leben, um davon zu erzählen
erklärten Ausnahme: Euripides. Er entdeckte mir Melville: Moby Dick als literarische Großtat, die grandiose Jonas-Predigt unter der riesigen, aus Walrippen erbauten Kuppel für die auf allen Weltmeeren gegerbten Walfänger. Er lieh mir Das Haus der sieben Dächer von Nathaniel Hawthorne, das mich fürs ganze Leben prägte. Gemeinsam versuchten wir uns an einer Theorie über das Schicksalhafte der Sehnsucht bei den Irrfahrten des Odysseus und verirrten uns dabei ausweglos. Ein halbes Jahrhundert später habe ich diese Frage in einem meisterhaften Text von Milan Kundera gelöst gefunden.
In eben der Zeit hatte ich die einzige Begegnung mit dem großen Lyriker Luis Carlos López, der als der Einäugige bekannt war und eine bequeme Art und Weise gefunden hatte,
tot zu sein, ohne zu sterben, und begraben ohne Begräbnis, vor allem ohne Trauerreden. Er wohnte in der historischen Altstadt in einem historischen Haus in der historischen Galle del Tablón, wo er geboren wurde und lebte, ohne irgend-jemanden zu stören. Er traf sich nur mit ein paar alten Freunden, während sein Ruhm als großer Dichter weiter wuchs, wie es sonst nur postum der Fall ist.
Man nannte ihn den Einäugigen, obwohl er das nicht war, sondern nur schielte, aber auch das auf besondere, schwer beschreibbare Weise. Sein Bruder, Domingo López Escaunaza, der Direktor von El Universal, sagte immer das Gleiche, wenn er nach ihm gefragt wurde:
»Er ist da.«
Das hörte sich nach einer ausweichenden Antwort an, war aber die reine Wahrheit: Er war da. Lebendiger als jeder andere, aber mit dem Vorteil, dass dies nicht allzu bekannt war; er bekam alles mit und war entschlossen, sich bei lebendigem Leibe zu begraben. Man sprach von ihm wie von einer historischen Reliquie, besonders dann, wenn man ihn nicht gelesen hatten. Das ging so weit, dass ich seit meiner Ankunft in Cartagena nicht versucht hatte, ihn kennen zu lernen, weil ich die Vorrechte eines unsichtbaren Menschen achtete. Damals war er achtundsechzig Jahre alt, und niemand hatte je bezweifelt, dass er ein großer, zeitloser Meister der Sprache war, obwohl nur wenige wussten, wie und warum, was angesichts der ungewöhnlichen Qualität seines Werkes kaum zu glauben war.
Zabala, Rojas Herazo, Gustave Ibarra, wir alle kannten Gedichte von ihm auswendig und zitierten sie spontan und passend, um unseren Gesprächen Glanzlichter aufzusetzen. Luis Carlos López war nicht abweisend, sondern schüchtern. Auch heute kann ich mich nicht daran erinnern, je ein Bild von ihm gesehen zu haben, nur ein paar schlichte Karikaturen, die stattdessen gedruckt wurden. Weil wir ihn nicht sahen, glaube ich, hatten wir ganz vergessen, dass er noch lebte, und dann hörte ich eines Abends, ich beendete eben meine tägliche Glosse, den erstickten Ausruf von Zabala:
»Verdammt, der Einäugige!«
Ich hob den Blick von der Maschine und sah den seltsamsten Mann, den ich je sehen sollte. Er war viel kleiner, als wir ihn uns vorgestellt hatten, und sein Haar war so weiß, dass es blau wirkte, und so widerspenstig, dass es wie ausgeliehen schien. Das linke Auge fehlte ihm nicht, sondern war vielmehr schief eingesetzt. Er trug Hauskleidung, dunkle Drillichhosen und ein gestreiftes Hemd, in der rechten Hand hielt er auf Schulterhöhe eine silberne Zigarettenspitze, rauchte aber die brennende Zigarette nicht, und die Asche fiel, ohne dass er sie abschüttelte, zu Boden, wenn sie sich nicht mehr halten konnte.
Er ging an uns vorbei zum Büro seines Bruders und kam nach zwei Stunden wieder heraus, als nur noch Zabala und ich in der Redaktion waren und darauf warteten, ihn zu begrüßen. Er starb zwei Jahre später, und die Erschütterung unter seinen Getreuen war so groß, als sei er nicht gestorben, sondern wieder auferstanden. Als er aufgebahrt im Sarg lag, wirkte er nicht so tot wie im Leben.
Etwa zur gleichen Zeit hielten der spanische Schriftsteller Dámaso Alonso und seine Frau, die Romanautorin Eulalia Galvarriato, zwei Vorträge in der Aula der Universität. Maestro Zabala, der nur ungern andere Leute störte, überwand dieses eine Mal seine Zurückhaltung und bat sie um ein Treffen. Gustavo Ibarra, Héctor Rojas Herazo und ich begleiteten ihn. Die Chemie stimmte sofort. Wir blieben etwa vier Stunden bei ihnen in einem Privatsalon des Hotel del Caribe und unterhielten uns über ihre Eindrücke von ihrer ersten Lateinamerika-Reise und unsere Anfängerträume als Schriftsteller. Héctor brachte ihnen einen eigenen Gedichtband
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