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Leben, um davon zu erzählen

Leben, um davon zu erzählen

Titel: Leben, um davon zu erzählen Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Gabriel García Márquez
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Jahre alt, hatten sie am 12. Juli um sieben Uhr morgens ihr Haus verlassen, um Holz zu schlagen. Sie waren etwa hundert Meter weit gegangen, als sie das Getöse der Erd- und Steinlawine hörten, die über die Bergflanke auf sie zustürzte. Es gelang ihnen gerade noch zu fliehen. Im Haus wurden die drei jüngeren Schwestern und die Mutter mit dem gerade erst geborenen Brüderchen verschüttet. Die einzigen Überlebenden waren die beiden Jungen, die kurz zuvor aus dem Haus gegangen waren, und der Vater der Kinder, der schon sehr früh zu seiner Arbeit in der zehn Kilometer entfernten Sandgrube aufgebrochen war.
    Der Ort war ungastliches Brachland an der Landstraße von Medellin nach Rionegro, und in der Früh um acht Uhr hielten sich dort keine weiteren Bewohner auf, die der Katastrophe zum Opfer hätten fallen können. In den Radiosendern wurde die Nachricht stark übertrieben und mit so vielen blutigen Einzelheiten ausgeschmückt, dass die ersten freiwilligen Helfer vor der Feuerwehr anrückten. Gegen Mittag gab es zwei weitere Erdrutsche, die zwar keine Opfer forderten, aber die allgemeine Nervosität verstärkten, und eine lokale Radiostation schickte ein Team, das live vom Unglücksort senden sollte. Zu diesem Zeitpunkt waren fast alle Bewohner der angrenzenden Dörfer und Stadtviertel dort versammelt, hinzu kamen aus der ganzen Stadt Neugierige, angelockt von den Sensationsmeldungen des Rundfunks, sowie die Leute, die aus den Überlandbussen gestiegen waren und mehr störten als halfen. Außer den wenigen Leichen, die noch vom Morgen dort lagen, gab es inzwischen weitere dreihundert Opfer der nachfolgenden Erdrutsche. Kurz vor Einbruch der Dunkelheit befanden sich immer noch über zweitausend spontane Helfer am Ort, die eher ungeschickt den Überlebenden Beistand leisteten. Nicht einmal zum Atmen gab es noch Platz. In die chaotisch sich drängende Menge stürzte um sechs Uhr abends mit ungeheurem Getöse eine weitere verheerende Lawine von sechshunderttausend Kubikmetern und forderte so viele Opfer, als sei sie im Parque Berrio mitten in Medellin niedergegangen. Die Katastrophe brach derartig schnell und überraschend herein, dass Dr. Javier Mora vom städtischen Bauamt später im Schutt sogar den Kadaver eines Kaninchens fand, das nicht hatte fliehen können.
    Als ich zwei Wochen später dort ankam, hatte man erst vierundsiebzig Leichen bergen können, doch zahlreiche Verletzte waren inzwischen außer Gefahr. Die meisten waren nicht Opfer der Naturkatastrophe geworden, sondern der Fahrlässigkeit und der unorganisierten Solidarität. Wie bei Erdbeben war es auch hier nicht möglich, die Zahl der Personen festzustellen, die, auf der Flucht vor ihren Schulden oder weil sie die Frau wechseln wollten, die Gelegenheit genutzt hatten, spurlos zu verschwinden. Doch auch das Glück hatte seine Hand im Spiel, da, wie eine spätere Untersuchung ergab, am ersten Tag der Rettungsarbeiten beinahe noch weitere Felsbrocken weggebrochen wären, die eine zusätzliche Lawine von fünfzigtausend Kubikmetern hätten auslösen können. Mit Hilfe der Überlebenden, die sich inzwischen erholt hatten, konnte ich nun, nach über zwei Wochen, die Geschichte tatsächlich viel besser rekonstruieren, als es im allgemeinen Durcheinander möglich gewesen wäre.
    Meine Aufgabe beschränkte sich darauf, die in einem Wirrwarr von widersprüchlichen Mutmaßungen untergegangene Wahrheit aufzuspüren und das menschliche Drama jenseits aller politischen oder sentimentalen Rücksichten in seiner zeitlichen Abfolge zu rekonstruieren. Álvaro Mutis hatte mich auf die richtige Fährte gesetzt, als er mich zu der Publizistin Cecilia Warren schickte, die mir half, die am Unglücksort gesammelten Angaben richtig einzuordnen. Die Reportage wurde in drei Folgen abgedruckt und hatte immerhin den Verdienst, das Interesse für eine vergessene Nachricht nach zwei Wochen wieder zu beleben und die Tragödie durchschaubar zu machen.
    Am liebsten erinnere ich mich aber nicht an das, was ich auf dieser Reise getan habe, sondern an das, was ich dank der überbordenden Phantasie des Malers Orlando Rivera, Figurita, beinahe getan hätte. Ich hatte den alten Gefährten aus Barran-quilla unverhofft in einer der knappen Atempausen während der Recherche getroffen. Er lebte seit einigen Monaten in Medeüin und war frisch verheiratet und glücklich mit Sol Santamaria, einer reizenden und freigeistigen Nonne, die mit Figuritas Hilfe nach sieben Jahren der Armut, des Gehorsams

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