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Leben, um davon zu erzählen

Leben, um davon zu erzählen

Titel: Leben, um davon zu erzählen Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Gabriel García Márquez
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Juli ein Erdrutsch in La Media Luna, einem steilen Gelände im Osten von Medellin, stattgefunden hatte. Die Skandalnachrichten der Zeitungen, das Chaos bei den Behörden und die Panik der Geschädigten hatten aber zu einem solchen administrativen und humanitären Durcheinander geführt, dass der wirkliche Ablauf der Ereignisse nicht mehr nachvollziehbar war. Salgar bat mich nicht darum, so weit wie möglich zu erkunden, was dort geschehen war, sondern befahl mir schlicht und einfach, in kürzester Zeit die ganze Wahrheit und nichts als die Wahrheit herauszubekommen. Doch so, wie er das sagte, hatte ich das Gefühl, dass er mir nun endlich die Zügel locker ließ.
    Bis dahin wusste die Welt von Medellin nur, dass hier Carlos Gardel bei einer Flugzeugkatastrophe verbrannt war. Ich wusste, es war ein Landstrich großer Schriftsteller und Dichter, und es gab dort das Colegio de la Presentación, in dem Mercedes Barcha seit jenem Jahr im Internat war. Angesichts einer so wahnwitzigen Mission erschien es mir auch schon nicht mehr unmöglich, Stück für Stück die Vernichtung eines Berges zu rekonstruieren. Also landete ich in Medellin um elf Uhr vormittags bei einem Gewitter, das so Furcht erregend war, dass ich mir dabei einbildete, das letzte Opfer des Erdrutsches zu sein.
    Ich ließ meinen Koffer mit Wäsche für zwei Tage und einer Krawatte für Notfälle im Hotel Nutibara und ging hinaus in eine idyllische Stadt, die noch von den Nachwehen des Wolkenbruchs eingeschattet war. Álvaro Mutis hatte mich zum Flugzeug begleitet, um mir bei der Überwindung meiner Flugangst zu helfen, und mir die Namen von Leuten gegeben, die im Leben der Stadt von Bedeutung waren. Die erschütternde Wahrheit aber war, dass ich keine Ahnung hatte, wo ich anfangen sollte. Dem Zufall gehorchend lief ich durch die leuchtenden Straßen, auf die nach dem Gewitter wie goldenes Mehl die Sonne rieselte, und nach einer Stunde musste ich in den ersten Laden flüchten, weil es unter der Sonne wieder zu regnen begonnen hatte. Und dann spürte ich das erste Flügelschlagen der Panik in der Brust. Ich versuchte es mit einer magischen Formel meines Großvaters zu beherrschen, die er im Schlachtgetümmel eingesetzt hatte, doch die Angst vor der Angst brachte mich vollends aus der Fassung.
    Ich merkte, dass ich niemals schaffen würde, was man mir aufgetragen hatte, und dass ich zu feige gewesen war, es einzugestehen. Ich begriff, dass es das einzig Vernünftige wäre, Guillermo Cano einen Dankesbrief zu schreiben und nach Barranquilla in den Zustand der Gnade zurückzukehren, in dem ich mich vor sechs Monaten befunden hatte.
    Mächtig erleichtert, der Hölle entkommen zu sein, nahm ich ein Taxi zurück zum Hotel. Die Mittagsnachrichten brachten einen langen zweistimmigen Kommentar zu den Erdrutschen, als hätten die sich erst gestern ereignet. Der Chauffeur ereiferte sich über die Nachlässigkeit der Regierung und über die schlecht organisierte Hilfe für die Opfer, und irgendwie fühlte auch ich mich schuldig an seinem lauten und gerechten Zorn. Inzwischen hatte der Regen wieder aufgehört, und die Luft war klar und duftete von den jählings aufgegangenen Blüten im Parque Berrio. Plötzlich, ich weiß nicht warum, spürte ich den Prankenschlag des Wahnsinns.
    »Machen wir doch eins«, sagte ich zum Fahrer: »Bringen Sie mich zum Ort des Erdrutsches, bevor wir zum Hotel fahren.«
    »Aber da gibt es doch nichts zu sehen«, sagte er. »Nur die brennenden Kerzen und die kleinen Kreuze für die Toten, die nicht ausgegraben werden konnten.«
    So wurde mir klar, dass sowohl Opfer wie Überlebende aus unterschiedlichen Stadtteilen stammten und sehr viele die Stadt durchquert hatten, um die Leichen des ersten Erdrutsches zu bergen. Die große Tragödie trug sich zu, als Neugierige sich am Unglücksort drängten und ein weiterer Teil des Berges in einer verheerenden Lawine abwärts stürzte. Die Geschichte konnten demnach nur die wenigen erzählen, die vor den nachfolgenden Erdrutschen hatten fliehen können und am anderen Ende der Stadt noch am Leben waren.
    »Verstehe«, sagte ich zu dem Fahrer und versuchte, das Zittern in meiner Stimme zu beherrschen. »Bringen Sie mich zu den Lebenden.«
    Er machte mitten auf der Straße eine Kehrtwende und raste in die Gegenrichtung. Sein Schweigen war wohl nicht allein der Geschwindigkeit geschuldet, sondern der Hoffnung, mich von seinen Argumenten zu überzeugen.
    Ich nahm den Faden bei zwei Kindern auf. Acht und elf

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