Leben, um davon zu erzählen
konnte Luisa Santiaga nicht mehr widerstehen und blickte über die Schulter zur Tür. Und meinte dann vor Wut sterben zu müssen, denn da stand er, schaute sie an, und ihre Blicke begegneten sich. »Genau das hatte ich geplant«, behauptete mein Vater glücklich, wenn er mir im Alter die Geschichte wieder einmal erzählte. Meine Mutter hingegen wurde nicht müde zu wiederholen, dass sie drei Tage lang ihren Zorn darüber, in die Falle getappt zu sein, nicht habe beherrschen können.
Das zweite Schlüsselerlebnis war ein Brief von ihm. Es war nicht der Brief, den sie von einem Dichter, von dem Geiger heimlicher Morgenstunden, erwartet hätte, sondern ein herrisches Billett, in dem er eine Antwort forderte, bevor er in der folgenden Woche nach Santa Marta reiste. Sie antwortete nicht. Sie sperrte sich in ihr Zimmer ein, fest entschlossen, die Gefühle abzutöten, die ihr keine Luft zum Leben ließen, bis Tante Francisca versuchte, sie zum Nachgeben zu bewegen, bevor es zu spät war. Um ihren Widerstand zu überwinden, erzählte sie ihr die beispielhafte Geschichte von Juventino Trillo, dem Verehrer, der unter dem Balkon seiner unerreichbaren Geliebten Wache hielt, jeden Abend von sieben bis zehn Uhr. Sie wies ihn harsch und auf jede mögliche Weise ab, entleerte schließlich sogar ihren Nachttopf über ihm, Abend für Abend. Es gelang ihr jedoch nicht, ihn zu vertreiben. Nach all den aggressiven Taufritualen war sie schließlich so gerührt von der Selbstlosigkeit dieser unbezwingbaren Liebe, dass sie ihn heiratete. Die Geschichte meiner Eltern erreichte solche Extreme nicht.
Die dritte Schlüsselsituation ergab sich bei einer vornehmen Hochzeit, zu der sie beide als Ehrengäste geladen waren. Luisa Santiaga fand keinen Vorwand, sich dieser familiären Verpflichtung zu entziehen. Das hatte sich Gabriel Eligio gedacht und erschien auf dem Fest, zu allem bereit. Sie konnte ihr Herz kaum im Zaum halten, als sie ihn mit allzu offensichtlicher Entschiedenheit quer durch den Saal kommen sah und er sie dann zum ersten Tanz aufforderte. »Das Blut pochte so heftig in meinem Körper, dass ich nicht mehr wusste, ob es aus Zorn oder aus Angst war«, erzählte sie mir. Er bemerkte es und setzte zum Prankenschlag an: »Sie müssen mir nicht mehr ihr Jawort geben, denn ihr Herz hat es mir bereits gesagt.«
Sie ließ ihn ohne weiteres mitten im Tanz im Saal stehen. Aber mein Vater verstand das auf seine Weise.
»Ich war glücklich«, sagte er zu mir.
Luisa Santiaga konnte kaum den Ärger über sich selbst ertragen, als sie im Morgengrauen von den Schmeicheltönen des vergifteten Walzers geweckt wurde: Cuando el baile se acaba - Als der Tanz endete. Am nächsten Tag gab sie frühmorgens Gabriel Eligio sämtliche Geschenke zurück. Diese unverdiente Kränkung, das Gerede über die Abfuhr auf dem Hochzeitsfest, der aufgeplusterte Zorn, all das schien kein Zurück mehr zu erlauben. Alle Welt hielt es für das rühmlose Ende eines Sommergewitters. Dieser Eindruck verstärkte sich, als Luisa Santiaga einen Rückfall ms Wechselfieber der Kindheit erlitt und ihre Mutter sie zur Erholung nach Manaure brachte, einem paradiesischen Winkel in den Ausläufern der Sierra Nevada. Meine Eltern haben stets bestritten, dass sie während dieser Monate miteinander in Verbindung standen, aber das ist nicht sehr glaubhaft, denn als Luisa Santiaga, erholt von ihrem Leiden, zurückkehrte, schienen beide auch von ihrer Verbitterung geheilt. Mein Vater erzählte, er sei zum Bahnhof gegangen, weil er das Telegramm gelesen hatte, in dem Mina ihre Heimkunft ankündigte, und dass ihm die Art und Weise, wie Luisa Santiaga seine Hand drückte, wie das Freimaurerzeichen für eine Liebesbotschaft erschienen sei. Sie hat das, mit der Diskretion und der Schamröte, mit der sie stets jener Jahre gedachte, bestritten. Tatsache aber ist, dass man sie von da an weniger zurückhaltend miteinander sah. Es fehlte nur das Ende, das Tante Francisca in der Woche darauf, während sie im Begoniengang nähten, ankündigte:
»Mina hat es erfahren.«
Luisa Santiaga hat immer gesagt, es sei der Widerstand der Familie gewesen, der die Deiche vor der Sturmflut brechen ließ, die sich in ihrem Herzen seit jener Nacht aufstaute, in der sie den Verehrer mitten im Tanz hatte stehen lassen. Es war ein erbitterter Krieg. Der Oberst versuchte, sich herauszuhalten, sah sich aber Minas Vorwürfen ausgesetzt, als sie merkte, dass auch er nicht so unschuldig war, wie er tat. Für alle Welt
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