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Leben, um davon zu erzählen

Leben, um davon zu erzählen

Titel: Leben, um davon zu erzählen Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Gabriel García Márquez
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Friedensverträgen in der Gegend angesiedelt hatten. Ihr gutes Vorbild war General Benjamin Herrera, auf dessen Finca in Neerlandia gegen Abend die Klagen seiner Friedensklarinette zu hören waren.
    Meine Mutter wuchs in diesem verlorenen Nest zur Frau heran, und alle Liebe konzentrierte sich auf sie, nachdem der Typhus Margarita Maria Miniata dahingerafft hatte. Auch sie war kränklich. Das Wechselfieber hatte ihr eine Ungewisse Kindheit beschert, als sie aber vom letzten Anfall genas, tat sie dies gründlich und ein für alle Mal und war fortan so gesund, dass sie ihren siebenundneunzigsten Geburtstag mit ihren elf Kindern und vier weiteren ihres Ehemannes, mit fünfundsechzig Enkeln, achtundachtzig Urenkeln und vierzehn Ur-urenkeln feiern konnte. Nicht gezählt die, von denen man nie erfahren hat. Als wir uns schon darauf vorbereiteten, ihr erstes Jahrhundert zu feiern, starb sie am 9. Juni 2002 um halb neun Uhr abends eines natürlichen Todes, an eben dem Tag und fast zur selben Stunde, als ich den Schlusspunkt hinter diese Memoiren setzte.
    Sie war am 25. Juli 1905 in Barrancas geboren worden, als die Familie sich gerade von der Katastrophe der Bürgerkriege erholte. Den ersten Namen bekam sie zum Andenken an Luisa Mejia Vidal, die Mutter des Obersts, die genau einen Monat zuvor verstorben war. Der zweite Name fiel ihr zu, weil es der Tag des in Jerusalem geköpften Apostels Santiago el Mayor, Jakobus des Älteren, war. Ein halbes Leben lang hat sie diesen zweiten Taufnamen, den sie zu männlich und zu prätentiös fand, geheim gehalten, bis ein treuloser Sohn sie in einem Roman verriet.
    Sie war eine erfolgreiche Schülerin, nur nicht in der Klavierstunde, die ihr von der Mutter auferlegt worden war, weil diese sich keine anständige junge Dame vorstellen konnte, die nicht zugleich eine virtuose Klavierspielerin war. Gehorsam mühte sich Luisa Santiaga drei Jahre lang und gab dann eines Tages auf, weil sie der täglichen Fingerübungen in der drückenden Siestazeit überdrüssig war. Ihre Charakterstärke war die einzige Tugend, die ihr in der Blüte ihrer zwanzig Jahre wirklich nützte, als die Familie entdeckte, dass sie zu dem jungen und stolzen Telegrafisten von Aracataca in Liebe entbrannt war.
    In meiner Jugend war die Geschichte dieser angefeindeten Liebe für mich eine Quelle des Staunens. Meine Eltern hatten sie mir -einzeln oder gemeinsam - so oft erzählt, dass ich, als ich mit siebenundzwanzig meinen ersten Roman Laubsturm schrieb, fast vollständig darüber verfügte, allerdings war mir auch bewusst, dass ich beim Romanschreiben noch viel zu lernen hatte. Meine Eltern waren beide vorzügliche Erzähler, hatten das glückliche Gedächtnis der Liebe, steigerten sich aber derart in ihre Erzählungen hinein, dass ich, als ich, gut fünfzigjährig, schließlich beschloss, ihre Geschichte in Die Liebe in den Zeiten der Cholera zu verwenden, nicht mehr in der Lage war, die Grenze zwischen Leben und Poesie auszumachen.
    Nach der Version meiner Mutter waren sie sich zum ersten Mal bei der Trauerfeier für einen kleinen Jungen begegnet, über den weder er noch sie mir Genaueres sagen konnte. Sie sang gerade im Patio zusammen mit ihren Freundinnen, denn es war der Brauch, die neun Nächte der Unschuldigen mit Liebesliedern zu überbrücken. Plötzlich fiel eine Männerstimme in den Chor ein. Alle Mädchen drehten sich um und staunten über den gut aussehenden Neuankömmling. »Wir heiraten ihn«, sangen sie den Refrain des Liedes und schlugen mit den Händen den Takt. Meine Mutter war weniger beeindruckt, erzählte sie mir: »Ein Fremder mehr, dachte ich.« Und das war er. Er kam gerade aus Cartagena de Indias, hatte das Studium der Medizin und Pharmazie aus Geldmangel abgebrochen und seitdem in mehreren Städtchen der Region ein eher bescheidenes Leben als Telegrafist geführt -damals ein neuer Beruf. Ein Foto aus jenen Tagen zeigt ihn in der zweifelhaften Aufmachung eines mittellosen jungen Herrn. Er trägt einen dunklen Taftanzug, die Jacke, nach der Mode des Tages sehr eng geschnitten, hat vier Knöpfe, dazu ein Hemd mit steifem Kragen, eine breite Krawatte und einen flachen Strohhut. Außerdem trägt er eine modische Brille mit runden, ungeschlif-fenen Gläsern, die dünn gefasst sind. Wer ihn zu jener Zeit kennen lernte, hielt ihn für einen Bohemien, einen Nachtschwärmer und Weiberhelden, dabei hat er in seinem langen Leben keinen Schluck Alkohol getrunken und keine Zigarette geraucht.
    Das war das

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