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Leben, um davon zu erzählen

Leben, um davon zu erzählen

Titel: Leben, um davon zu erzählen Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Gabriel García Márquez
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schien klar, dass nicht er, sondern sie für die Intoleranz verantwortlich war, dabei gehörte diese tatsächlich zum Gesetz des Stammes, für den jeder Bewerber ein Eindringling ist. Dieses atavistische Vorurteil, dessen Nachwirkungen noch heute zu spüren sind, hat aus uns eine große Gemeinde aus ledigen Frauen und lockeren Männern mit zahllosen Straßenkindern gemacht.
    Die Freunde ergriffen je nach Alter Partei für oder gegen die Verliebten, und wer keinen entschiedenen Standpunkt hatte, dem wurde er durch die Geschehnisse aufgezwungen. Die jungen Leute wurden zu begeisterten Komplizen. Vor allem von Gabriel Eligio, der seine Rolle als Opfer sozialen Dünkels genüsslich ausleben konnte. Die Mehrzahl der Erwachsenen aber sahen in Luisa Santiaga das wertvollste Unterpfand einer reichen und mächtigen Familie, um das sich ein hergelaufener Telegrafist nicht aus Liebe, sondern aus Berechnung bemühte. Luisa Santiaga selbst, die doch so gehorsam und willfährig gewesen war, stellte sich ihren Gegnern mit der Wildheit einer Löwenmutter. In der schärfsten ihrer vielen häuslichen Auseinandersetzungen verlor Mina die Beherrschung und erhob das Brotmesser gegen die Tochter. Luisa Santiaga hielt ihr regungslos stand. Als sich Mina dann plötzlich der kriminellen Energie ihres Zorns bewusst wurde, ließ sie das Messer fallen und schrie entsetzt: »Oh mein Gott!« Und legte die Hand auf die glühenden Kohlen im Herd, eine grausame Buße.
    Zu den starken Argumenten gegen Gabriel Eligio gehörte seine uneheliche Geburt; seine Mutter hatte ihn im zarten Alter von vierzehn Jahren nach einer eher zufälligen Begegnung mit einem Schulmeister bekommen. Sie hieß Argemira García Paternina, eine schlanke weiße Frau von freiem Geist, die weitere Kinder, fünf Söhne und zwei Töchter, von drei verschiedenen Vätern hatte. Keinen von ihnen heiratete sie, und mit keinem lebte sie je unter einem Dach. Sie wohnte in ihrem Geburtsort Sincé und brachte ihre Kinderschar mit Zähnen und Krallen und einer unbändigen Zuversicht und Heiterkeit durch, die wir Enkel uns gern für einen Palmsonntag gewünscht hätten.
    Gabriel Eligio war ein besonderes Exemplar dieser bettelarmen Sippe. Seit seinem siebzehnten Lebensjahr hatte er fünf jungfräuliche Geliebte gehabt, wie er meiner Mutter in der Hochzeitsnacht an Bord des sturmgeschüttelten Schoners von Riohacha beichtete. Er gestand ihr, dass er als achtzehnjähriger Telegrafist im Dorf Achí mit einer von ihnen einen Sohn gezeugt hatte, Abelardo, der jetzt drei wurde. Zwanzigjährig, als er am Telegrafenamt in Ayapel beschäftigt war, hatte er mit einer anderen eine Tochter gezeugt, die Carmen Rosa hieß und nun einige Monate alt war. Er kannte sie nicht, ihrer Mutter hatte er jedoch Rückkehr und Ehe versprochen und hatte dieses Versprechen aufrechterhalten, bis sein Lebensweg durch die Liebe zu Luisa Santiaga eine andere Richtung genommen hatte. Den Ältesten hatte er vor einem Notar anerkannt, was er später auch mit seiner Tochter tun sollte, aber das waren bedeutungslose Formalitäten, die keinerlei Folgen vor dem Gesetz hatten. Es ist erstaunlich, dass dieses irreguläre Verhalten dem Oberst Márquez moralische Bauchschmerzen bereiten konnte, da er selbst außer seinen drei legitimen Kindern weitere neun mit unterschiedlichen Müttern gehabt hatte, sowohl vor als auch nach seiner Eheschließung, und alle Kinder waren von seiner Frau aufgenommen worden, als wären es die eigenen.
    Ich kann nicht mehr rekonstruieren, wann ich zum ersten Mal von diesen Dingen erfuhr, jedenfalls haben mich die Entgleisungen der Vorfahren kaum berührt. Die Namen in der Familie dagegen weckten meine ganze Aufmerksamkeit, sie erschienen mir einzigartig. Zunächst die aus der mütterlichen Linie: Tranquilina, Wenefrida, Francisca Simodosea. Später der Name meiner Großmutter väterlicherseits, Argemira, und die Namen ihrer Eltern: Lozana und Aminadab. Vielleicht kommt daher meine feste Überzeugung, dass die Figuren in meinen Romanen erst auf eigenen Füßen stehen, wenn sie einen Namen haben, der ihrem Wesen entspricht.
    Gegen Gabriel Eligio sprach neben allem anderen auch noch, dass er aktives Mitglied der konservativen Partei war, gegen die Oberst Nicolás Márquez seine Kriege gerührt hatte. Der Frieden war nach der Unterzeichnung der Vereinbarungen von Neerlandia und Wisconsin nur notdürftig gesichert, denn es herrschte weiterhin ein ungelenker Zentralismus, und es sollte noch lange dauern, bis

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