Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Leben, um davon zu erzählen

Leben, um davon zu erzählen

Titel: Leben, um davon zu erzählen Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Gabriel García Márquez
Vom Netzwerk:
alt war.
    Tante Wenefrida nannten wir Nana, sie war die fröhlichste und sympathischste der Sippe, ich kann sie aber nur in ihrem Krankenbett vor mir sehen. Sie war mit Rafael Quintero Ortega -Onkel Quinte - verheiratet, einem Anwalt der Armen; er war in Chía geboren, etwa fünfzehn Meilen von Bogotá entfernt und auf gleicher Höhe über dem Meer. Er passte sich aber der Karibik so gut an, dass er in der Hölle von Cataca Wärmflaschen für seine kalten Füße brauchte, um in den kühlen Dezembernächten einschlafen zu können. Die Familie hatte sich von dem Unglück mit Medardo Pacheco schon erholt, als Onkel Quinte das seine ereilte, weil er den Anwalt der Gegenseite bei einem Gerichtsstreit tötete. Er hatte den Ruf eines friedlichen und guten Menschen, doch der Gegner reizte ihn ohne Unterlass, und es blieb ihm nichts anderes übrig, als sich zu bewaffnen. Er war so klein und knochig, dass er Kinderschuhe tragen musste, und seine Freunde bedachten ihn mit freundlichem Spott, weil der Revolver sich unter seinem Hemd wie eine Kanone abzeichnete. Der Großvater warnte Onkel Quinte mit seinem berühmten Satz: »Sie wissen nicht, wie schwer ein Toter wiegt.« Der Onkel hatte jedoch keine Zeit, daran zu denken, als sich der Feind ihm mit irrem Gebrüll in der Vorhalle des Gerichts in den Weg stellte und dann dieser riesige Körper auf ihn zustürzte. »Ich habe einmal gemerkt, wie ich den Revolver gezogen und mit zwei Händen und geschlossenen Augen in die Luft geschossen habe«, erzählte mir Onkel Quinte, kurz bevor er fast hundertjährig starb. »Als ich die Augen öffnete«, sagte er, »sah ich ihn noch vor mir stehen, groß und bleich, und dann sackte er langsam zusammen, bis er auf dem Boden lag.« Erst da merkte Onkel Quinte, dass er ihn mitten in die Stirn getroffen hatte. Ich fragte ihn, was er gefühlt habe, als er ihn fallen sah, und war von seiner Offenheit überrascht:
    »Eine maßlose Erleichterung!«
    Meine letzte Erinnerung an seine Frau Wenefrida ist die an eine Nacht mit starkem Regen, als eine Hexerin ihr die Dämonen austrieb. Es war keine gewöhnliche Hexe, sondern eine sympathische Frau, modisch gekleidet, die mit einem Strauch Brennnesseln die schlechten Säfte aus dem Körper trieb, während sie einen Bannspruch sang, als sei es ein Wiegenlied. Plötzlich wand sich Nana in einem schweren Krampf, worauf ein Vogel in der Größe eines Huhns und mit schimmernden Federn aus den Betttüchern aufflatterte. Die Frau packte ihn mit gekonntem Griff in der Luft und wickelte ihn in ein schwarzes Tuch, das sie bereitliegen hatte. Sie befahl, ein Feuer im Hinterhof anzuzünden, und warf den Vogel ohne jede Zeremonie in die Flammen. Doch Nana erholte sich nicht von ihren Leiden.
    Kurz darauf wurde das Feuer im Patio erneut angezündet, weil ein Huhn ein phantastisches Ei gelegt hatte, das wie ein Pingpon-ball aussah, aber einen Zipfel wie eine phrygische Mütze hatte. Meine Großmutter identifizierte es sofort: »Das ist ein Basiliskenei.« Und sie murmelte beschwörende Gebete, als sie es ins Feuer warf.
    Ich konnte mir die Großeltern nie in einem anderen Alter vorstellen als in dem meiner Erinnerungen aus jener Zeit. Für mich sahen sie immer so aus wie auf den Porträtfotos, die man an der Schwelle zum Alter von ihnen gemacht hatte und deren immer verblicheneren Abzüge wie bei einem Stammesritual über vier kinderreiche Generationen weitergegeben wurden.
    Vor allem die Fotos von Großmutter Tranquilina, der leichtgläubigsten und beeindruckbarsten Frau, die ich je kennen gelernt habe, weil ihr die Mysterien des Alltags Angst und Schrecken einflößten. Sie versuchte sich ihre Arbeit angenehm zu gestalten, indem sie lauthals alte Liebeslieder sang, unterbrach diese jedoch plötzlich angesichts eines drohenden Verhängnisses.
    »Heilige Maria Mutter Gottes!«
    Denn sie sah, wie sich die Schaukelstühle von alleine bewegten, wie das Gespenst des Kindbettfiebers in die Zimmer der Gebärenden schlich, der Jasminduft im Garten war für sie ein unsichtbarer Geist, und ein zufällig auf den Boden geworfener Schnürsenkel zeigte womöglich die Zahl an, die den Hauptgewinn der Lotterie davontragen würde, und ein Vogel ohne Augen, der sich ins Esszimmer verirrt hatte, ließ sich nur dadurch verscheuchen, dass das Banngebet La Magnifica gesungen wurde. Sie glaubte mit einem Geheimcode die Identität der Figuren und Orte in den Liedern, die aus Der Provinz herüberkamen, aufschlüsseln zu können. Sie stellte sich

Weitere Kostenlose Bücher