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Leben, um davon zu erzählen

Leben, um davon zu erzählen

Titel: Leben, um davon zu erzählen Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Gabriel García Márquez
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aus der Familie des Aggressors büßen. Mein Onkel Esteban war derart entschlossen, dass er den Revolver zog und auf den Tisch legte, um keine Zeit zu verlieren, während er mich befragte. Von da an keimte jedes Mal, wenn wir uns auf unseren Fahnen an der karibischen Küste trafen, erneut die Hoffnung in ihm, ich könnte mich erinnert haben. Eines Abends, zu der Zeit, als ich die Geschichte der Familie für einen ersten Roman durchforschte, den ich nie beendete, tauchte Onkel Esteban in meinem kleinen Büro bei der Zeitung auf und schlug mir vor, wir sollten gemeinsam eine Untersuchung des Attentats betreiben. Er gab nie auf. Als ich ihn zum letzten Mal in Cartagena de Indias sah, er war schon alt und hatte ein schrundiges Herz, verabschiedete er sich mit einem traurigen Lächeln von mir:
    »Ich weiß nicht, wie du mit einem so schlechten Gedächtnis hast Schriftsteller werden können.«
    Als es in Aracataca nichts mehr zu tun gab, brachte mein Vater uns wieder einmal nach Barranquilla, um ohne einen Centavo Kapital eine neue Apotheke aufzumachen, allerdings mit einem guten Kredit von den Großhändlern, die bei vorherigen Geschäften seine Partner gewesen waren. Es war nicht die fünfte Apotheke, wie wir unter uns sagten, sondern immer ein und dieselbe, die wir -dem jeweiligen geschäftlichen Riecher meines Vaters folgend -von einer Stadt in die andere verlegten: Zweimal war Barranquilla dran, zweimal Aracataca und einmal Sincé. Mit keiner hat er viel verdient und mit allen geringfügige Schulden gemacht. Ohne Großeltern, Tanten, Onkel oder Personal bestand die Familie nur noch aus den Eltern und den Kindern, die nach neun Ehejahren nun schon sechs waren - drei Jungen und drei Mädchen.
    Mich machte diese Veränderung in meinem Leben höchst unruhig. Als kleines Kind hatte ich meine Eltern mehrmals in Barranquilla besucht, aber immer nur kurz, und meine Erinnerungen aus jener Zeit sind sehr bruchstückhaft. Beim ersten Besuch, anlässlich der Geburt meiner Schwester Margot, war ich drei. Ich erinnere mich an den moorig riechenden Hafen im Morgengrauen, den einspännigen Wagen, dessen Kutscher mit der Peitsche die Gepäckträger verscheuchte, die in den leeren, staubigen Straßen aufspringen wollten. Ich erinnere mich an die ockerfarbenen Mauern und die grün gestrichenen Fenster und Türen der Geburtsklinik, wo das Mädchen zur Welt gekommen war, und an das stark nach Medizin riechende Zimmer. Das Neugeborene lag in einem einfachen Eisenbett am Ende eines kahlen Raums neben einer Frau, die zweifellos meine Mutter war, aber ich kann mich nicht an ihr Gesicht erinnern, nur an ihre Anwesenheit und daran, dass sie eine schwache Hand nach mir ausstreckte und seufzte:
    »Du kennst mich nicht mehr.«
    Weiter nichts. Das erste deutliche Bild, das ich von ihr habe, ist aus späteren Jahren, es ist scharf und unanzweifelbar, ich kann es jedoch zeitlich nicht genau einordnen. Wahrscheinlich war es bei einem ihrer Besuche in Aracataca nach der Geburt meiner zweiten Schwester, Aida Rosa. Ich spielte gerade im Hof mit einem frisch geborenen Lämmchen, das die Hebamme Santos Villero mir aus Fonseca mitgebracht hatte, als Tante Mama angerannt kam und mir entsetzt - wie mir schien - zurief:
    »Deine Mutter ist gekommen!«
    Tante Mama schleifte mich förmlich zum Salon, wo alle Frauen des Hauses und ein paar Nachbarinnen wie bei einer Trauerfeier auf den an den Wänden aufgereihten Stühlen saßen. Das Gespräch wurde von meinem plötzlichen Erscheinen unterbrochen. Ich stand versteinert in der Tür, wusste nicht, wer meine Mutter war, bis sie mit der zärtlichsten Stimme, die ich je gehört habe, die Arme ausbreitete:
    »Du bist ja schon ein kleiner Mann!«
    Sie hatte eine feine römische Nase, war würdevoll und blass und wirkte in der Mode dieses Jahres vornehmer denn je: Sie trug ein elfenbeinfarbenes Seidenkleid mit verlängerter Taille, eine mehrreihige Perlenkette, silbrige Riemchenschuhe mit hohem Absatz, dazu einen glockenförmigen Strohhut wie aus einem Stummfilm. Ihre Umarmung hüllte mich in ihren Duft ein, den ich dann immer an ihr gerochen habe, und ein jähes Schuldgefühl durchfuhr Körper und Seele, denn ich wusste, es war meine Pflicht, sie zu lieben, fühlte aber nichts dergleichen.
    Die älteste Erinnerung an meinen Vater stammt dagegen nachweisbar und eindeutig vom 1.Dezember 1934, seinem dreiunddreißigsten Geburtstag. Ich sehe ihn mit schnellem, fröhlichem Schritt ins Haus der Großeltern in Cataca kommen,

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