Leben, um davon zu erzählen
er trägt einen weißen Leinenanzug und eine Kreissäge auf dem Kopf. Jemand beglückwünscht ihn mit einer Umarmung und fragt, wie alt er geworden sei. Seine Antwort habe ich nie vergessen, weil ich sie in jenem Moment nicht verstand:
»So alt wie Christus.«
Ich habe mich immer gefragt, warum mir diese Erinnerung so weit zurückzu liegen scheint, war ich doch zu der Zeit zweifellos schon oft mit meinem Vater zusammen gewesen.
Wir hatten noch nie im selben Haus gelebt, nach Margots Geburt machten es sich die Großeltern jedoch zur Gewohnheit, mit mir nach Barranquilla zu fahren, so dass ich dann bei Aida Rosas Geburt nicht mehr so fremd dort war. Ich glaube, es war ein glückliches Haus. Sie hatten ihre Apotheke darin und eröffneten später eine zweite im Geschäftszentrum. Wir sahen Großmutter Argemira - Mama Gime - wieder, auch zwei ihrer Kinder, Julio und Ena. Letztere war sehr schön, aber in der Familie für ihr Unglück berühmt. Sie starb mit fünfundzwanzig Jahren, man weiß nicht woran, und es heißt immer noch, dass der böse Zauber eines abgewiesenen Verehrers schuld daran war. Mama Gime erschien mir, je größer wir wurden, immer sympathischer und ihr Mundwerk immer lockerer.
In eben der Zeit kam es zu einem Zwischenfall, mit dem meine Eltern meine Gefühle dermaßen erschütterten, dass davon eine nur schwer zu vergessende Narbe zurückblieb. Es war an einem Tag, an dem sich meine Mutter, von plötzlicher Sehnsucht erfasst, ans Klavier setzte und Cuando el baile se acabó zu klimpern begann, den historischen Walzer ihrer heimlichen Liebe, und mein Vater in romantischer Verspieltheit seine Geige entstaubte, um meine Mutter darauf zu begleiten, obwohl eine Saite fehlte. Sie fiel mühelos in seinen Stil der romantischen Nächte ein, spielte besser denn je und sah ihn schließlich beglückt über die Schulter an, wobei sie merkte, dass seine Augen feucht von Tränen waren. »An wen denkst du?«, fragte meine Mutter in wilder Einfalt. »An das erste Mal, als wir ihn zusammen gespielt haben«, erwiderte er, vom Walzer inspiriert. Woraufhin meine Mutter wütend mit beiden Fäusten auf die Tasten schlug.
»Das war nicht ich, du Jesuit!«, schrie sie laut. »Du weißt sehr wohl, mit wem du den Walzer gespielt hast, und du weinst um sie.«
Sie nannte keinen Namen, damals nicht und auch später nie, doch der Schrei ließ uns Kinder an verschiedenen Stellen des Hauses vor Entsetzen erstarren. Luis Enrique und ich, die wir immer geheime Gründe hatten, etwas zu fürchten, versteckten uns unter den Betten. Aida floh ins Nachbarhaus, und Margot verfiel in ein plötzliches Fieberdelirium, das drei Tage dauerte. Dabei waren selbst die kleineren Geschwister an die Eifersuchtsexplosionen meiner Mutter gewohnt, ihre Augen standen dann in Flammen, und ihre römische Nase wurde scharf wie ein Messer. Wir hatten erlebt, wie sie mit seltener Ruhe die Bilder im Salon abhängte und eins nach dem anderen im klirrenden Glashagel auf den Boden schmetterte. Wir hatten sie dabei ertappt, wie sie Stück für Stück die Kleidung meines Vaters beschnüffelte, bevor sie in den Wäschekorb kam. Nach der Nacht des tragischen Duetts geschah erst einmal nichts, doch dann transportierte der florentinische Klavierstimmer das Klavier ab, um es zu verkaufen, und die Geige vermoderte endgültig neben dem Revolver im Schrank.
Barranquilla war damals ein Vorbild für zivilen Fortschritt, für einen gemäßigten Liberalismus und eine friedliche politische Koexistenz. Entscheidende Faktoren für das Wachstum und die Prosperität der Stadt waren das Ende der Bürgerkriege, die nach der Unabhängigkeit von Spanien über ein Jahrhundert lang das Land heimgesucht hatten, und später der Niedergang der Bananenzone, die unter der heftigen Repression, von der sie nach dem großen Streik betroffen war, schwer gelitten hatte.
Der unternehmerische Geist der Einwohner von Barranquilla war nicht kleinzukriegen. Im Jahre 1919 hatte der junge Industrielle Don Mario Santodomingo - der Vater von Julio Mario - zivilen Ruhm errungen: Von einem primitiven Flugzeug aus, das der Nordamerikaner William Knox Martin steuerte, warf er einen Sack mit siebenundfünfzig Briefen auf den Strand von Puerto Colombia und weihte damit den nationalen Luftpostdienst ein. Nach Ende des Ersten Weltkriegs kam eine Gruppe von deutschen Fliegern -darunter Helmuth von Krohn - nach Kolumbien und eröffnete die Fluglinien mit Junkers F-I5, den ersten Wasserflugzeugen, die mit sechs
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