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Leben, um davon zu erzählen

Leben, um davon zu erzählen

Titel: Leben, um davon zu erzählen Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Gabriel García Márquez
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Pater Präfekt wie von Gottes Gnade verlassen.
    Von Anfang an fiel auf, dass er weder methodisch noch geduldig genug fürs Unterrichten war, doch sein maliziöser Humor hielt uns in Atem, wie uns auch die meisterhaften Bilder, die er mit Farbkreiden auf die Tafel malte, in Erstaunen versetzten. Er hielt sich nicht länger als drei Monate an der Schule, wir erfuhren nicht warum, aber es ist anzunehmen, dass seine weltliche Pädagogik sich nicht mit der geistigen Ordnung der Gesellschaft Jesu vertrug.
    Schon bald errang ich am Kolleg den Ruf eines Poeten, zunächst wegen der Leichtigkeit, mit der ich die Gedichte der spanischen Klassik und Romantik aus den Schulbüchern auswendig lernte und lauthals vortrug, später wegen der gereimten Satiren, mit denen ich meinen Klassenkameraden in der Schülerzeitschrift bedachte. Ich hätte die Satiren nicht geschrieben oder ihnen etwas mehr Aufmerksamkeit gewidmet, wenn ich geahnt hätte, dass sie den Ruhm gedruckter Buchstaben erfahren sollten. Eigentlich waren es nur freundliche Spottverse auf meine Mitschüler; ich schrieb sie heimlich auf Zettelchen und ließ sie in der schläfrigen Unterrichtsstunde um zwei Uhr mittags zirkulieren. Pater Luis Posada, Präfekt der zweiten Abteilung, erwischte einen, las ihn mit unwirscher -Miene und tadelte mich entsprechend, steckte ihn aber in die lasche. Pater Arturo Mejia zitierte mich sodann in sein Büro und schlug mir vor, die beschlagnahmten Satiren in der Zeitschrift Juventud, dem offiziellen Organ der Kollegschüler, zu veröffentlichen. Ich bekam daraufhin vor lauter Überraschung, Scham und Glück Bauchschmerzen, was ich nicht sehr überzeugend durch eine ablehnende Haltung überspielte:
    »Das ist nur dummes Zeugs.«
    Pater Mejia notierte sich die Antwort und veröffentlichte die Verse mit Erlaubnis der Opfer unter diesem Titel - Dummes Zeugs von Gabito - in der nächsten Nummer der Zeitschrift. Für die zwei folgenden Ausgaben musste ich auf Bitten meiner Klassenkameraden eine weitere Serie liefern. Also sind diese kindlichen Verse - ob ich es will oder nicht - streng genommen mein opus primum.
    Das Laster, alles zu lesen, was mir in die Hände fiel, nahm meine Freizeit und fast den ganzen Unterricht in Anspruch. Ich konnte Gedichte aus dem damals in Kolumbien geläufigen populären Repertoire vollständig aufsagen, dazu die schönsten aus dem Siglo de Oro und der Romantik in Spanien, die ich meistens aus den Schulbüchern lernte. Dieses für mein Alter unzeitgemäße Wissen regte meine Lehrer auf, denn jedes Mal, wenn sie mir eine tödliche Frage stellten, beantwortete ich diese mit einem Zitat oder mit irgendeinem aus Büchern bezogenen Einfall, der sich der Bewertung entzog. Padre Mejía drückte es so aus: »Er ist ein altkluger Junge«, um nicht zu sagen, schwer erträglich. Ich musste mein Gedächtnis nie besonders anstrengen, denn die Gedichte und auch einige Stücke klassischer Prosa blieben mir nach dem dritten oder vierten Lesen im Hirn haften. Meine erste Uhr habe ich bei einer Wette mit dem Pater Präfekten gewonnen, als ich, ohne zu stocken, die siebenundfünfzig zehnzeiligen Stanzen von El vértigo von Caspar Núnez de Arce aufsagte. Das offene Buch auf den Knien, las ich mit einer Dreistigkeit im Unterricht, dass Strafe nur deshalb ausbleiben konnte, weil die Lehrer ein Auge zudrückten. Was ich mit meinen wohl gereimten Scherzgedichten allerdings nicht erreichte, war, dass sie mir die tägliche Messe um sieben Uhr morgens erließen. Ich schrieb mein dummes Zeugs, sang als Solist im Chor, zeichnete Karikaturen, sagte bei feierlichen Anlässen Gedichte auf und machte noch viel mehr außerhalb der Reihe, so dass niemand begriff, wann ich eigentlich lernte. Die Erklärung war denkbar einfach: Ich lernte nicht.
    Bei all dieser übertriebenen Geschäftigkeit verstehe ich immer noch nicht, wie sich die Lehrer so ausgiebig mit mir beschäftigen konnten, ohne sich über meine Holzhacker-Orthografie zu erregen. Ganz anders war das bei meiner Mutter, die meinem Vater einige meiner Briefe vorenthielt, um seine Gesundheit zu schonen, und sie mir korrigiert zurückschickte, manchmal auch mit Glückwünschen zu gewissen grammatikalischen Fortschritten und zum richtigen Gebrauch der Wörter. Nach zwei Jahren waren jedoch keine wirklichen Fortschritte ersichtlich. Heute schlage ich mich immer noch mit dem gleichen Problem herum: Ich habe nie begriffen, warum Buchstaben geduldet werden, die man nicht ausspricht, oder warum es zwei

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