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Leben, um davon zu erzählen

Leben, um davon zu erzählen

Titel: Leben, um davon zu erzählen Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Gabriel García Márquez
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Westentaschenausgabe des Kölner Doms, die ein spanischer Pfarrer, der auch als Architekt fungierte, aus dem Gedächtnis nachgebaut hatte. Macht wurde unmittelbar und absolut ausgeübt. Jeden Abend nach dem Rosenkranz gab die Zahl der Glockenschläge vom Kirchturm an, wie der im Nachbarkino angekündigte Film nach dem Katalog des katholischen Filmbüros moralisch bewertet wurde. Der diensthabende Missionar saß an der Tür seines Büros und überwachte den Eingang des Filmtheaters auf der anderen Straßenseite, um die Unbotmäßigen zu bestrafen.
    Stark frustriert war ich über das Alter, in dem ich nach Sucre kam. Es fehlten nur noch ein paar Monate, bis ich die Schicksalslinie der dreizehn Jahre überqueren würde, und man ertrug mich nicht mehr als Kind, erkannte mich aber auch noch nicht als Erwachsenen an, und in diesem Zwischenreich war ich schließlich der Einzige unter den Geschwistern, der nicht schwimmen lernte. Man wusste nicht, ob man mich an den Kindertisch oder an den der Erwachsenen setzen sollten. Die Mägde zogen sich auch bei ausgeknipstem Licht nicht mehr vor mir aus, nur eine schlief mehrmals nackt in meinem Bett, ohne meinen Schlaf zu stören. Ich hatte nicht genügend Zeit gehabt, mich in diesen Urständen des freien Willens auszutoben, als ich im Januar des neuen Jahres zurück nach Barranquilla musste, um mit der Oberschule zu beginnen, weil es in Sucre keine Schule gab, die den ausgezeichneten Noten von Lehrer Casalins genügt hätte.
    Nach langen Erkundigungen und Diskussionen, bei denen ich kaum etwas zu sagen hatte, entschieden meine Eltern sich für das Jesuitenkolleg San José in Barranquilla. Ich kann mir nicht erklären, wie sie in so wenigen Monaten so viel Geld zusammenbekommen haben, da die Apotheke und die homöopathische Praxis sich erst etablieren mussten. Meine Mutter hatte immer ein Argument, das keinerlei Beweis erforderte: »Gott ist groß.« In die Umzugskosten waren wohl Unterbringung und Unterhalt der Familie in der ersten Zeit einberechnet worden, nicht aber mein Schulgeld. Da ich nur ein Paar kaputte Schuhe und einmal Kleidung zum Wechseln hatte, wenn die schmutzige gewaschen wurde, stattete mich meine Mutter mit neuer Wäsche und einem Koffer in der Größe eines Katafalks aus, ohne sich zu überlegen, dass ich in sechs Monaten um eine ganze Spanne wachsen würde. Sie entschied auch auf eigene Faust, dass ich von nun an lange Hosen tragen sollte, trotz der vom Vater unterstützten Regel, dass sie einem erst nach dem Stimmbruch zustanden.
    In Wahrheit trug mich bei den Diskussionen über die Erziehung der einzelnen Kinder immer die Hoffnung, Papa würde in einem seiner homerischen Zornesausbrüche beschließen, dass keines seiner Kinder mehr zur Schule musste. So etwas war nicht ausgeschlossen. Er selbst war durch die höhere Gewalt der Armut Autodidakt, und sein Vater, ein von der eisernen Moral Ferdinand VII. inspirierter Grundschullehrer, hatte sich für den Hausunterricht eingesetzt, um die Integrität der Familie zu bewahren. Ich fürchtete die Schule wie einen Kerker, mich schreckte schon der bloße Gedanke, dem Regiment der Glocke unterworfen zu sein, andererseits war es die einzige Möglichkeit, ab dreizehn ein freies Leben zu genießen, in einem guten Verhältnis zur Familie, doch fern von ihren Ordnungsvorstellungen, ihrem demografischen Eifer, ihren schwierigen Tagen, und atemlos lesen zu können, solange das Licht reichte.
    Mein einziges Argument gegen das Colegio San José, eines der anspruchsvollsten und teuersten an der Karibik, war seine martialische Disziplin, doch meine Mutter parierte meinen Schachzug mit einem Bauern: »Dort werden die Gouverneure gemacht.« Als es schon kein Zurück mehr gab, wusch mein Vater sich die Hände in Unschuld:
    »Ich möchte festhalten, dass ich weder ja noch nein gesagt habe.«
    Er hätte die amerikanische Schule vorgezogen, damit ich Englisch lernte, doch für meine Mutter schied sie aus dem unsachlichen Grund aus, dass es sich dabei um ein Nest von Lutheranern handele. Heute muss ich zu Ehren meines Vaters eingestehen, dass eines der großen Mankos in meinem Schriftstellerleben die Tatsache gewesen ist, kein Englisch zu sprechen.
    Barranquilla von der Brücke desselben Dampfers Capi-tdn Caro aus wiederzusehen, auf dem wir die Stadt drei Monate zuvor verlassen hatten, machte mir das Herz schwer, als ahnte ich, dass ich nun alleine ins wirkliche Leben zurückkehrte. Zum Glück hatten meine Eltern arrangiert, dass ich

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