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Leben, um davon zu erzählen

Leben, um davon zu erzählen

Titel: Leben, um davon zu erzählen Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Gabriel García Márquez
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schlafen auf dem nackten Boden, das Essensgeld reicht gerade mal bis heute, und am Montag übergebe ich das Haus den neuen Mietern.« Sie merkte, dass die Angestellten in der Halle ihr interessiert zuhörten, und wandte sich an diese: »Was kann das schon für ein so großes Unternehmen bedeuten?« Und ohne eine Antwort abzuwarten, sah sie dem Geschäftsführer direkt in die Augen:
    »Glauben Sie an Gott?«
    Der Geschäftsführer war irritiert. Ein zu langes Schweigen hing in der Luft, und das ganze Büro hielt den Atem an. Da lehnte sich meine Mutter im Stuhl zurück, drückte die Knie, die zu zittern begonnen hatten, zusammen, umklammerte die Handtasche auf ihrem Schoß mit beiden Händen und sagte mit der Entschlossenheit ihrer großen Taten:
    »Ich bewege mich nicht von hier weg, bis Sie eine Lösung gefunden haben.«
    Der Geschäftsführer war baff, und das gesamte Personal unterbrach die Arbeit, um meine Mutter zu betrachten. Sie saß unbeirrbar da, die Nase scharf, Schweißperlchen auf der bleichen Stirn. Sie trug schon länger keine Trauer mehr, hatte das Kleid aber wieder hervorgeholt, weil es ihr für diese Aufgabe am geeignetsten erschien. Der Geschäftsführer sah nicht mehr zu ihr hin, sondern schaute auf seine Angestellten, wusste nicht, was tun, und rief schließlich für alle aus:
    »So etwas hat es noch nie gegeben!«
    Meine Mutter zuckte nicht mit der Wimper. »Mir stand das Wasser schon fast in den Augen, aber ich musste durchhalten, das wäre zu peinlich gewesen«, erzählte sie mir später. Der Geschäftsführer wies daraufhin den Angestellten an, ihm die Unterlagen ins Büro zu bringen. Was dieser auch tat, um nach fünf Minuten wieder herauszukommen, zusammengestaucht und wütend, doch mit allen ordnungsmäßig ausgestellten Bil-lets für die Reise.
    In der folgenden Woche gingen wir in der Ortschaft Sucre an Land, als wären wir dort geboren worden. Sucre hatte etwa sechzehntausend Einwohner, wie zu jener Zeit viele Gemeinden im Land, und die Leute kannten alle einander, weniger vom Namen her als von ihren geheimen Geschichten. Nicht nur der Ort, auch die ganze Region war ein Meer zahmen Wassers, das mit dem Blütenschaum die Farbe wechselte, je nach Jahreszeit, Ort und eigener Gemütsverfassung. Diese Pracht konnte sich mit den traumhaften Wasserlandschaften Südostasiens messen. In all den Jahren, in denen unsere Familie dort lebte, hat es im Ort kein einziges Auto gegeben. Es wäre auch nutzlos gewesen, denn die schnurgeraden, glatt gewalzten Erdstraßen waren wie geschaffen fürs Barfußlaufen, und viele Häuser hatten am Kücheneingang einen Privatsteg mit eigenen Kanus für Transporte innerhalb des Orts.
    Als Erstes verspürte ich eine unvorstellbare Freiheit. Alles, w as uns Kindern gefehlt hatte oder wonach wir uns gesehnt hatten, war plötzlich in greifbarer Nähe. Jeder aß, wenn er Hunger hatte, schlief irgendwann, und es war für die Erwachsenen nicht leicht, sich um uns zu kümmern, denn trotz strenger Regeln kamen sie mit ihrer eigenen Zeit so wenig zurecht, dass sie sich nicht einmal um sich selbst kümmern konnten. Die einzige Sicherheitsmaßnahme für die Kinder war, dass sie schwimmen lernen mussten, noch bevor sie laufen konnten, da der Ort von einem tRuben Kanal, der gleichzeitig als Aquädukt und als Abwassergraben diente, in zwei Teile zerschnitten wurde. Wenn die Kinder ein Jahr alt waren, warf man sie aus den Küchenfenstern in den Kanal, erst mit Rettungsringen, damit sie die Angst vor dem Wasser verloren, und später ohne Rettungsringe, damit sie den Respekt vor dem Tod verloren. Jahre später glänzten mein Bruder Jaime und meine Schwester Ligia, die diese gefährliche Initiation überlebt hatten, bei den Schwimmwettbewerben für Kinder.
    Zu einem unvergesslichen Ort wurde Sucre für mich durch dieses Gefühl der Freiheit, mit dem wir Kinder uns auf der Straße bewegten. Nach zwei oder drei Wochen wussten wir, wer in welchem Haus wohnte, und wir gingen dort aus und ein wie alte Bekannte. Die gesellschaftlichen Sitten - abgeschliffen vom Gebrauch - waren die des modernen Lebens innerhalb einer feudalen Kultur: Die Reichen - Viehzüchter und Zuckerbarone -lebten um die große Plaza herum, und die Armen da, wo sie Platz fanden. Für die Kirchenverwaltung war es ein Territorium selbständiger Missionen mit eigener Gerichtsbarkeit, verstreut über ein weites Reich von Seen. Im Mittelpunkt dieser Welt, auf der großen Plaza von Sucre, stand die Gemeindekirche, eine

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