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Leben, um davon zu erzählen

Leben, um davon zu erzählen

Titel: Leben, um davon zu erzählen Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Gabriel García Márquez
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Unterkunft und Essen bei meinem Vetter José Maria Valdeblanquez und seiner Frau Hortensia bekam; sie waren jung und freundlich und teilten ihr geruhsames Leben mit mir in einem einfachen Wohnzimmer, einer Schlafkammer und einem kleinen gepflasterten Patio, der immer im Schatten der an Drähten trocknenden Wäsche lag. Sie schliefen mit ihrer sechsmonatigen Tochter in der Kammer. Ich schlief im Wohnzimmer auf dem Sofa, das nachts in ein Bett verwandelt wurde.
    Das Colegio San José lag sechs Blocks entfernt in einem Park mit Mandelbäumen, wo sich früher der älteste Friedhof der Stadt befunden hatte und man immer noch vereinzelt Knöchelchen und Fetzen toter Kleider zwischen den Pflastersteinen finden konnte. Am Tag, an dem ich zum ersten Mal den großen Innenhof betrat, fand dort eine Zeremonie für das erste Oberschuljahr statt. Alle trugen die Sonntagsuniform, weiße Hosen und eine blaue Tuchjacke, und ich konnte nicht der Panik Herr werden, dass diese Jungen alles beherrschten, was mir noch unbekannt war. Bald merkte ich jedoch, sie standen der Ungewissen Zukunft ebenso unbeleckt und verängstigt gegenüber wie ich.
    Ein persönliches Schreckgespenst war für mich Bruder Pedro S. Reyes, Aufseher für die Grundstufe der Sekundärschule, der sich alle Mühe gab, die Ordensoberen des Kollegs davon zu überzeugen, dass es mir an Vorbildung für die Sekundärschule fehlte. Er entwickelte sich zu einem Alb, der mir an den unvorhergesehensten Orten auflauerte und mich plötzlichen Prüfungen mit diabolischen Fallstricken unterzog: »Glaubst du, dass Gott einen Stein schaffen kann, der so schwer ist, dass er ihn nicht heben kann?«, fragte er, ohne mir Zeit zum Nachdenken zu lassen. Oder noch so eine gemeine Fangfrage: »Wenn wir um den Äquator einen goldenen Gürtel von fünfzig Zentimetern Breite spannen würden, um wie viel würde das Gewicht der Erde dann zunehmen?« Ich bestand nicht ein einziges Mal vor ihm, selbst wenn ich die Antwort wusste, weil meine Zunge, wie bei meinem ersten Telefonat, vor Angst versagte. Die Angst war nicht unbegründet, denn Bruder Reyes hatte Recht. Ich war nicht ausreichend auf die Oberschule vorbereitet, aber ich konnte nicht das Geschenk ausschlagen, dass sie mich ohne Aufnahmeprüfung angenommen hatten. Ich zitterte schon, wenn ich ihn nur sah. Einige Schulkameraden hatten eine boshafte Interpretation für seine Nachstellungen, doch es gab keinen Anlass, ihnen zu glauben. Außerdem half mir das Bewusstsein, mein erstes mündliches Examen glänzend bestanden zu haben, als ich fließend wie Wasser Fray Luis de León rezitierte und mit Farbkrei-den einen Christus wie aus Fleisch und Blut an die Tafel malte. Das Prüfungstribunal war so überrascht, dass es darüber die Arithmetik und die Heimatkunde vergaß.
    Das Problem mit Bruder Reyes löste sich, als er in der Karwoche Zeichnungen für seinen Botanikunterricht brauchte und ich sie ihm, ohne mit der Wimper zu zucken, anfertigte. Er gab nicht nur seine Verfolgungen auf, sondern verbrachte manchmal die Pausen damit, mir die wohl fundierten Lösungen der Fragen beizubringen, die ich ihm nicht hatte beantworten können, oder noch seltsamere Fragen zu behandeln, die dann wie zufällig in späteren Prüfungen meines ersten Oberschuljahrs auftauchten. Jedes Mal, wenn er mich jedoch in einer Gruppe antraf, spottete er mit großem Gelächter darüber, dass ich der Einzige aus der dritten Grundschulklasse sei, dem es an der Oberschule gut ergehe. Heute sehe ich, dass er Recht hatte. Besonders wegen der Orthografie, die meine ganze Studienzeit zu einem Leidensweg machte und auch weiterhin die Korrektoren meiner Bücher schreckt. Die gutwilligsten trösten sich damit, dass es sich um Tippfehler handelt.
    Meine Ängste verminderten sich, als der Maler und Schriftsteller Héctor Rojas Herazo zum Zeichenlehrer ernannt wurde. Er muss Anfang zwanzig gewesen sein. Begleitet von dem Pater Präfekten kam er in den Klassenraum, und sein Gruß hallte wie lautes Türenschlagen durch die heiße Schwüle um drei Uhr mittags. Er sah gut aus und hatte die lockere Eleganz eines Filmschauspielers, trug eine sehr enge Kamelhaarjacke mit goldenen Knöpfen, dazu eine gemusterte Weste und eine bedruckte Seidenkrawatte. Am ungewöhnlichsten war jedoch die Melone auf seinem Kopf. Rojas Herrazo war so groß, dass er bis oben an den Türrahmen reichte, er musste sich also bücken, wenn er mit zarter Hand etwas auf die Tafel zeichnen wollte. Neben ihm wirkte der

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