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Leben, um davon zu erzählen

Leben, um davon zu erzählen

Titel: Leben, um davon zu erzählen Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Gabriel García Márquez
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José Palencia, unser Freund aus Sucre, gewann bei einem Trommel-Wettbewerb in Tenerife eine Kuh und verkaufte sie dort sogleich für fünfzig Pesos - zu jener Zeit ein Vermögen. In dem riesigen Vergnügungsviertel von Barrancabermeja, der Hauptstadt des Erdöls, trafen wir zu unserer Überraschung Angel Casij Palencia, den Vetter von José, der im Jahr zuvor spurlos aus Sucre verschwunden war und jetzt als Sänger mit der Kapelle eines Bordells auftrat. Wir feierten durch bis sechs Uhr morgens, und das Orchester übernahm die Kosten.
    Meine unangenehmste Erinnerung ist die an eine düstere Kneipe in Puerto Berrio, aus der die Polizei mich mit drei anderen Passagieren hinausprügelte, ohne eine Erklärung zu geben oder anzuhören, und uns festnahm, weil wir angeblich eine Schülerin vergewaltigt hatten. Als wir beim Kommissariat ankamen, saßen dort schon die wahren Schuldigen ohne einen einzigen Kratzer hinter Gittern - ein paar Rabauken vom Ort, die mit unserem Schiff nichts zu tun hatten.
    Am Zielhafen, Puerto Salgar, musste man um fünf Uhr morgens in Hochlandkleidung das Schiff verlassen. Die Männer, in schwarzem Tuch, mit Weste und Melone, die Mäntel über dem Arm, hatten inmitten von springenden Fröschen und" dem Gestank der im Fluss treibenden Tierkadaver die Identität gewechselt. Als wir von Bord gingen, wurde ich Opfer eines ungewöhnlichen Übergriffs. Eine Freundin der letzten Stunden hatte meine Mutter beschwatzt, mir einen Petate zusammenzupacken, ein Bündel mit einer leichten Hängematte aus Pitahanf, einer Wolldecke und einem Nachttopf für Notfälle, alles in eine Matte aus Espartogras gewickelt und an die gekreuzten Stäbe der Hängematte gebunden. Meine Musikerfreunde konnten sich vor Lachen nicht halten, als sie mich derart für die Wiege der Zivilisation ausgerüstet sahen, und der Entschlossenste von ihnen tat das, was ich nicht zu tun gewagt hätte: Er warf das Bündel ms Wasser. Mein letztes Bild von dieser unvergesslichen Reise war der Petate, der in der Strömung schaukelnd zu seinen Ursprüngen zurückkehrte.
    Von Puerto Salgar aus kroch der Zug in den ersten vier Stunden die felsigen Hänge hinauf. Auf den steilsten Strecken ließ er sich auch mal zurückrollen, um schnaubend wie ein Drache aufs Neue Anlauf zu nehmen. Manchmal mussten die Passagiere, damit der Zug leichter wurde, aussteigen und zu Fuß bis zum nächsten Felsgesims klettern. Die Dörfer auf dem Weg waren trist und eisig, und an den verlassenen Bahnhöfen warteten auf uns nur die Verkäuferinnen, die schon immer da gewesen waren, und boten durch das Zugfenster dicke, gelbe Hühner feil, die unzerteilt gekocht waren, dazu Schneekartoffeln, die ganz wunderbar schmeckten. Dort spürte ich zum ersten Mal einen mir unbekannten und unsichtbaren Zustand des Körpers: die Kälte. Zum Glück öffneten sich dann gegen Abend die Savannen vor uns, unermesslich weit bis zum Horizont, grün und schön wie ein Himmelsmeer. Das Leben wurde ruhig und bündig. Die Stimmung im Zug wandelte sich.
    Ich hatte den unersättlichen Leser völlig vergessen, als er plötzlich auftauchte und sich mir gegenübersetzte, als triebe ihn etwas Dringendes. Es war kaum zu glauben. Er war von einem Bolero hingerissen, den wir nachts auf dem Schiff gesungen hatten, und bat mich, ihm den Text aufzuschreiben. Ich tat nicht nur das, sondern brachte ihm auch die Melodie bei. Ich war erstaunt über sein gutes Gehör und die Glut seiner Stimme, als er ihn dann alleine sang, genau und schön, schon beim ersten Mal.
    »Diese Frau wird sterben, wenn sie das hört!«, rief er aus und strahlte.
    Nun begriff ich seine Unruhe. Als er uns den Bolero singen hörte, hatte er gespürt, das Lied werde eine Offenbarung für seine Braut sein, die ihn vor drei Monaten in Bogotá verabschiedet hatte und ihn an diesem Abend am Bahnhof erwartete. Er hatte den Bolero noch zwei- oder dreimal gehört, konnte ihn halbwegs zusammenbringen, als er mich jedoch allein da sitzen sah, hatte er beschlossen, mich um den Gefallen zu bitten. Da wurde auch ich kühn und sagte zusammenhangslos, aber absichtsvoll, wie sehr ich darüber gestaunt habe, auf seinem Tisch ein Buch zu sehen, das so schwer zu bekommen sei. Seine Überraschung war echt:
    »Welches denn?«
    »Der Doppelgänger.«
    Er lachte zufrieden.
    »Ich bin noch nicht fertig damit«, sagte er, »aber es ist einer der seltsamsten Romane, die mir untergekommen sind.«
    Das war alles. Er bedankte sich in den höchsten Tönen für den

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