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Leben, um davon zu erzählen

Leben, um davon zu erzählen

Titel: Leben, um davon zu erzählen Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Gabriel García Márquez
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auffällige Reisende war natürlich Jack the Ripper, mein Kabinengenosse, der im Schlaf stundenlang in einer barbarischen Sprache redete. Er störte mich nicht, weil sein Gerede etwas Melodisches hatte, das meiner nachmitternächtlichen Lektüre einen neuen Hintergrund gab. Er sagte mir, ihm sei nicht bewusst, dass er rede, er wisse auch nicht, in welcher Sprache er träume, weil er sich als Kind mit den Seiltänzern des Zirkus in sechs asiatischen Dialekten verständigt, diese aber nach dem Tod seiner Mutter alle vergessen habe. Geblieben war ihm nur das Polnische, seine ursprüngliche Sprache, aber wir konnten ausschließen, dass er in dieser Sprache im Schlaf redete. Ich kann mich an kein hinreißenderes Geschöpf erinnern, insbesondere wenn er seine gefährlichen Messer ölte und ihre Schärfe an seiner rosigen Zunge prüfte.
    Nur am ersten Tag hatte er im Speisesaal Probleme gehabt, als er den Kellnern vorhielt, er könne die Reise nicht überleben, wenn sie ihm nicht vier Portionen servierten. Der Oberkellner erklärte ihm, das täten sie gerne, wenn er einen Aufpreis dafür bezahle, auf den sie ihm einen Sonderrabatt gewähren würden. Er führte an, dass er alle Weltmeere befahren habe und ihm auf allen das Menschenrecht zuerkannt worden sei, nicht hungers zu sterben. Der Fall ging bis zum Kapitän, der sehr kolumbianisch entschied, dass man ihm zwei Rationen servieren solle und die Kellner ihm aus Versehen bis zu zwei weiteren geben könnten. Im Übrigen behalf er sich damit, von den Tellern der Tischgenossen und einiger appetitloser Nachbarn zu naschen, die ihren Spaß an seinen Einfällen hatten. Man muss es gesehen haben, um es zu glauben.
    Ich wusste nicht, was ich mit mir anfangen sollte, bis in La Gloria eine Gruppe Studenten zustieg, die abends Trios und Quartette bildeten und bei wunderbaren Serenaden Liebesboleros sangen. Als ich entdeckte, dass sie einen Tiple übrig hatten, übernahm ich diesen, und wir übten nachmittags und sangen dann bis zum Morgengrauen. Die Langeweile der freien Stunden war durch ein Heilmittel fürs Herz behoben. Wer nicht singt, kann sich nicht vorstellen, was Singen für eine Lust ist.
    In einer Mondscheinnacht weckte uns eine herzzerreißende Klage vom Ufer her. Kapitän Climaco Conde Abello, einer der Großen seiner Zunft, gab den Befehl, mit Scheinwerfern nach der Quelle dieser Klage zu suchen, es war eine Seekuh, die sich in den Zweigen eines umgestürzten Baumes verfangen hatte. Die kleinen Boote wurden zu Wasser gelassen, die Seekuh wurde an ein Spill gebunden, und es gelang, sie freizuschleppen. Es war ein phantastisches, anrührendes Geschöpf, halb Frau, halb Kuh, und fast vier Meter lang. Die Haut war bleich und zart, und hr Rumpf mit den großen Brüsten war der einer biblischen Mutter. Von eben diesem Kapitän Conde Abello hörte ich zum ersten Mal, dass die Welt untergehen würde, wenn man weiter die Tiere des Flusses tötete, und er verbot, von seinem Schiff aus auf sie zu schießen.
    »Wer jemanden umbringen will, der soll es zu Hause tun!«, schrie er. »Nicht auf meinem Schiff.«
    Siebzehnjahre später, am 19. Januar 1961, ein schlechter Tag in meiner Erinnerung, rief mich ein Freund in Mexiko an, um mir zu erzählen, dass das Dampfschiff David Arango im Hafen von Magangue Feuer gefangen habe und zu Asche verbrannt sei. Ich legte den Hörer auf und wurde mir mit Entsetzen dessen bewusst, dass an diesem Tag meine Jugend zu Ende und das wenige, was uns vom Fluss unserer Sehnsucht noch blieb, zum Teufel war.
    Die Tiere am Magdalena sind ausgestorben und mit seinem fauligen Wasser ist er ein toter Fluss. Um die Sanierungspläne umzusetzen, von denen so viele Regierungen immer nur geredet haben, müsste man sechzig Millionen Bäume neu anpflanzen, und das auf Land, das zu neunzig Prozent in privater Hand ist; aus Liebe zur Heimat hätten die Besitzer auf 90% ihrer heutigen Einkünfte zu verzichten.
    Jede Fahrt brachte wichtige Lebenserfahrungen, die uns auf flüchtige, aber unvergessliche Weise mit den Dörfern am Ufer verbanden, und mancher geriet hier auf immer in die Schlingen seines Schicksals. Ein erfolgreicher Medizinstudent stahl sich uneingeladen in eine Hochzeitsfeier und tanzte ohne Erlaubnis mit der schönsten Frau, woraufhin ihn der Ehemann mit einem Schuss niederstreckte. Ein anderer heiratete bei einem epischen Besäufnis das erste Mädchen, das ihm in Puerto Berrio gefallen hatte, und ist immer noch glücklich mit ihr und seinen neun Kindern.

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