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Leben, um davon zu erzählen

Leben, um davon zu erzählen

Titel: Leben, um davon zu erzählen Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Gabriel García Márquez
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Bolero und verabschiedete sich mit einem festen Händedruck.
    Es begann dunkel zu werden, als der Zug die Fahrt drosselte, an einem Schuppen voller rostigem Schrott vorbeifuhr und an einem schattigen Kai vor Anker ging. Ich packte den Koffer am Riemen und schleifte ihn zur Straße, um nicht von der Menge umgerannt zu werden. Ich war schon fast angekommen, als jemand rief:
    »Junger Mann, junger Mann!«
    Ich drehte mich um wie auch mehrere junge und nicht ganz so junge Leute, die gleichfalls vorwärtshasteten, sah den unersättlichen Leser kommen, er blieb nicht stehen, gab mir aber im Vorbeigehen ein Buch.
    »Wohl bekomm's!«, rief er mir zu und verlor sich im Gewühl. Das Buch war Der Doppelgänger.
    Ich war so benommen, dass mir gar nicht recht klar wurde, was mir widerfahren war. Ich steckte das Buch in die Manteltasche, und der eisige Wind der Abenddämmerung schlug mir entgegen, als ich aus dem Bahnhof kam. Ich konnte einfach nicht mehr, stellte den Koffer auf den Gehsteig und setzte mich nach Luft schnappend darauf. Auf den Straßen war keine Seele. Alles, was ich sah, war ein finsterer, eisiger Boulevard unter einem leichten, mit Ruß durchmischten Nieselregen, auf zweitausendvierhundert Meter Höhe, in einer Polarluft, die das Atmen schwer machte.
    Halb tot vor Kälte wartete ich mindestens eine halbe Stunde. Es musste jemand kommen, denn mein Vater hatte ein dringendes Telegramm an Don Eliecer Torres Arango geschickt, einen Verwandten, der mein Betreuer sein sollte. Die Sorge, ob nun jemand kam oder nicht kam, bedrückte mich damals aber weniger als die Tatsache, dass ich auf einem sargähnlichen Koffer am anderen Ende der Welt saß und niemanden kannte. Plötzlich stieg ein vornehmer Mann aus einem Taxi, er hatte einen Regenschirm aus Seide und einen Kamelhaarmantel, der ihm bis zu den Knöcheln reichte. Ich begriff, das war mein Betreuer, obwohl er mich kaum anblickte und an mir vorüberging, und hatte nicht den Mut, ihm ein Zeichen zu geben. Er eilte in das Bahnhofsgebäude und kam Minuten später ohne jede Hoffnung wieder heraus. Endlich entdeckte er mich und deutete mit dem Zeigefinger auf mich:
    »Du bist Gabito, nicht wahr?«
    Ich antwortete aus tiefster Seele: »Das kann man sagen.«

4
    B ogotá war damals eine ferne und düstere Stadt, in der seit Anfang des 16. Jahrhunderts schlafloser Nieselregen fiel. Auffällig erschien mir, dass zu viele eilige Männer auf der Straße waren, alle wie ich in schwarzes Tuch gekleidet und mit steifen Hüten auf dem Kopf. Hingegen war keine einzige Frau zum Trost zu sehen, ihnen war ebenso wie Geistlichen in Soutane und Soldaten in Uniform das Betreten der schummrigen Cafés im Geschäftszentrum verboten. In den Straßenbahnen und öffentlichen Pissoirs hing ein trauriges Schild: »Wenn du Gott nicht fürchtest, fürchte die Syphilis.«
    Ich war beeindruckt von den mächtigen Pferden vor den Bierkarren, vom Funkenstieben der Trambahnen, wenn sie um die Ecken bogen, und von den Verkehrsstockungen aufgrund der vielen Trauerzüge, bei denen die Menschen zu Fuß durch den Regen gingen. Es waren besonders trübsinnige Trauerzüge, mit luxuriösen Leichenwagen, gezogen von Pferden, die mit Samtschabracke, Sturmhaube und Federbusch ausstaffiert waren, und mit Leichen aus guter Familie, die sich aufführten, als hätten sie den Tod erfunden. Im Atrium von Las Nieves sah ich vom Taxi aus die erste Frau, sie war schlank und geschmeidig und hatte die Haltung einer Königin in Trauer, doch diese Illusion blieb für immer unvollkommen, da der Kopf mit einem undurchdringlichen Schleier bedeckt war.
    Es war ein seelischer Absturz. Das Haus, in dem ich die Nacht verbrachte, war groß und komfortabel, mir aber erschien es gespenstisch, mit seinem düsteren Garten und den dunklen Rosen und dieser Kälte, die mir die Knochen zermalmte. Es gehörte den Torres Gamboa, die mit meinem Vater verwandt und mir bekannt waren, doch so, wie sie da in Decken gewickelt beim Abendessen saßen, fremd auf mich wirkten. Am heftigsten erschrak ich, als ich zwischen die Bettlaken glitt, ich stieß einen Schrei des Entsetzens aus, denn es fühlte sich so an, als seien die Laken mit einer eisigen Flüssigkeit getränkt. Man erklärte mir, das sei beim ersten Mal so, ich werde mich aber nach und nach an die Besonderheiten des Klimas gewöhnen. Ich weinte mehrere Stunden lang still vor mich hin, bis ich endlich in einen unglücklichen Schlaf fiel.
    So war auch meine Stimmung, als ich vier Tage nach der

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