Leben, um davon zu erzählen
hatte. Die Prüfung in Zeichnen, die ich hastig, aber gut erledigte, verschaffte mir einige Erleichterung. »Da muss die Chicha ein Wunder gewirkt haben«, sagten meine Musiker. Wie auch immer, ich beendete das Ganze jedenfalls in einem Zustand völliger Zerstörung und mit dem Entschluss, meinen Eltern einen Brief über die Rechte und Gründe zu schreiben, nicht nach Hause zurückzukehren.
Ich kam der Aufforderung nach, eine Woche später meine Noten abzuholen. Die Angestellte am Empfang musste wohl irgendein Zeichen auf meinen Unterlagen entdeckt haben, denn sie brachte mich ohne Begründung zum Direktor. Ich traf ihn gut gelaunt an, in Hemdsärmeln und mit rot gemusterten Hosenträgern. Er ging meine Prüfungsnoten mit professioneller Aufmerksamkeit durch, zögerte ein- oder zweimal und atmete schließlich durch.
»Nicht schlecht«, sagte er zu sich selbst. »Außer in Mathematik, aber du bist gerade noch einmal davongekommen, dank der Eins in Zeichnen.«
Er lehnte sich in seinem gefederten Stuhl zurück und fragte mich, an welche Schule ich gedacht hätte.
Das war eine meiner historischen Schrecksekunden, doch ich zögerte nicht:
»San Bartolomé in Bogotá.«
Er legte die Hand auf einen Stapel Papiere, die auf dem Schreibtisch lagen.
»Das sind alles Briefe von hohen Tieren, die ihre Kinder, Verwandten oder Freunde für Schulen am Ort empfehlen«, sagte er. Ihm wurde bewusst, dass er das nicht hätte sagen sollen, und er fuhr fort: »Wenn du mir einen Ratschlag erlaubst, das Liceo Nacional de Zipaquirá, eine Stunde Zugfahrt von hier entfernt, wäre am geeignetsten für dich.«
Von dieser historischen Stadt wusste ich nur, dass es dort Salzbergwerke gab. Gómez Tómara erklärte mir, dass die Schule seit der Kolonialzeit von einem Orden geführt worden sei, man diesen jedoch im Zuge einer liberalen Reform kürzlich enteignet habe und die Schule nun über ein erstklassiges Lehrerkollegium aus jungen, modern gesinnten Pädagogen verfüge. Ich dachte, es sei meine Pflicht, etwas klarzustellen.
»Mein Vater ist Konservativer«, ließ ich ihn wissen.
Er lachte auf.
»Sei nicht so ernsthaft«, meinte er. »Ich meine liberal im Sinne einer weltoffenen Denkungsart.«
Woraufhin er sofort zu seinem persönlichen Stil zurückfand und kurzerhand entschied, mein Glück läge in diesem alten Kloster aus dem 17. Jahrhundert, das, in eine Schule für Ungläubige verwandelt, sich in einem verschlafenen Dorf befinde, wo es keine Zerstreuungen außer dem Lernen gebe. Der alte Klostergang verharrte in der Tat gleichmütig angesichts der Ewigkeit. In den frühen Zeiten hatte der steinerne Portikus die Inschrift getragen: »Der Anfang aller Weisheit ist die Gottesfurcht.« Doch diese Devise wurde durch das kolumbianische Wappen ersetzt, als die liberale Regierung unter Alfonso López Pumarejo das Schulwesen verstaatlichte. Von der Vorhalle aus, wo ich mich nach dem Schleppen des schweren Koffers von der Atemnot erholte, bedrückte mich der kleine Innenhof mit dem steingehauenen kolonialen Säulengang, den grün gestrichenen Hoizbalkonen und den Kästen mit melancholischen Blumen an den Geländern. Alles war einer religiösen Ordnung unterworfen, und jedem Ding war allzu deutlich anzumerken, dass es dreihundert Jahre lang nicht die Nachsicht von Frauenhänden erfahren hatte. Verwöhnt von den gesetzesfreien Räumen der Karibik, packte mich die Panik, vier entscheidende Jahre meiner Jugend in dieser erstarrten Zeit verleben zu müssen.
Noch heute erscheint es mir unmöglich, dass in zwei Stockwerken um einen düsteren Patio und einem zusätzlichen Ziegelgebäude, das im rückwärtigen Grundstück hochgezogen worden war, die Wohnung und das Büro des Rektors, die Verwaltung, die Küche, der Esssaal, die Bibliothek, die sechs Unterrichtsräume, der Physik- und Chemiesaal, das Lager, die Bäder und auch noch der Schlafsaal Platz fanden, in dem ein halbes Hundert Schüler, ein paar wenige aus der Hauptstadt und der Rest herangeschleppt aus den armseligsten Vororten des Landes, in batterieartig aufgereihten Eisenbetten schlief. Aber auch diesen Zustand der Verbannung hat mir mein guter Stern beschert. Denn so lernte ich früh und gründlich, wie das Land beschaffen ist, das mir bei der Verlosung der Welt zugefallen ist.
Das Dutzend karibischer Gefährten, die mich gleich von meiner Ankunft an zu sich zählten, und natürlich auch ich, sahen unüberbrückbare Unterschiede zwischen uns und den anderen: den Einheimischen und den
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