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Leben und Schicksal

Leben und Schicksal

Titel: Leben und Schicksal Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Wassili Grossman
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fuhr er mit dem Jeep zur Straße, die zum Bahnhof führte. Die Panzer kamen aus dem Wald heraus. Unter ihrem schweren Gewicht klirrte die gefrorene Erde. Die Abendsonne erleuchtete die Wipfel des fernen Tannenwaldes, aus dem die Brigade von Oberstleutnant Karpow kam. Die Regimenter von Makarow fuhren durch junges Birkengehölz. Die Panzerschützen hatten die Panzerung mit Zweigen geschmückt; es sah so aus, als seien die Tannennadeln und Birkenblätter mit der Panzerung, dem Motorendröhnen und dem silberhellen Knirschen der Raupen eins geworden.
    Im Soldatenjargon heißt es beim Anblick einer an die Front rollenden Reserveeinheit: »Da gibt’s eine Hochzeit!«
    Nowikow hatte die Straße verlassen und betrachtete die an ihm vorbeirumpelnden Panzerkampfwagen.
    Wie viele Dramen, wie viele seltsame und komische Geschichten hatten sich hier abgespielt! Wie viele besondere Vorkommnisse hatte man ihm gemeldet … Im Bataillonsstab war beim Frühstück ein Frosch in der Suppe entdeckt worden … Unterleutnant Roschdestwenski, ein Mann mit Hochschulreife, hatte eine Maschinenpistole gereinigt und einem Kameraden durch einen Schuss, der sich zufällig gelöst hatte, eine Bauchverletzung zugefügt; danach hatte Unterleutnant Roschdestwenski Selbstmord begangen … Ein Rotarmist des Kradschützenregiments hatte sich geweigert, einen Eid zu leisten mit der Begründung: »Schwören werde ich nur in der Kirche.«
    Zartblaue und graue Rauchschleier legten sich auf das Gebüsch entlang der Straße.
    Wie verschiedenartig waren die Gedanken, die jetzt durch die Köpfe unter den Lederhelmen gingen. Natürlich waren es die Gedanken, die zurzeit das ganze Volk bewegten; die Trauer über den Krieg, die Liebe zum eigenen Land. Aber es herrschte in diesen Köpfen auch die erstaunliche Vielfalt an Ideen, durch die das, was die Menschen vereinte, erst seine Schönheit gewann.
    Oje … wie viele fuhren an ihm vorbei in ihren schwarzen Kampfanzügen, die breiten Gurte um die Hüften geschlungen! Die Heeresführung hatte Burschen von kleinem Wuchs mit breiten Schultern ausgesucht, weil die leichter in die Luken klettern konnten und im Panzerinneren wendig waren. Wie viele identische Antworten hatte er in den Fragebogen gelesen über ihre Väter und Mütter, über das Geburtsdatum, den Schulabschluss, die Traktoristenausbildung! Die grünen, flach gebauten Panzer rollten einer nach dem anderen an ihm vorüber, verschmolzen zu einem gleichförmigen Band – ausschließlich Panzer vom Typ T-34, alle mit aufgeklappten Lukendeckeln und über die grüne Panzerung festgezurrten Schutzplanen.
    Der eine Panzerschütze singt vor sich hin; der zweite hält die Augen halb geschlossen und ist voller Angst und schlimmer Vorahnungen; der dritte denkt an sein Zuhause; der vierte kaut an einem Wurstbrot und denkt an seine Wurst; der fünfte müht sich mit offenem Mund, einen Vogel auf dem Baum zu erkennen – ist es nicht ein Wiedehopf? –; der sechste macht sich Sorgen, ob er gestern etwa seinen Kameraden durch eine grobe Äußerung beleidigt haben könnte; der siebte träumt voll arglistigem, schwelendem Groll davon, seinem Widersacher, dem vor ihm fahrenden Kommandeur der Vierunddreißiger, eins in die Fresse zu geben; der achte schreibt im Geist ein Gedicht – Abschied vom Herbstwald; der neunte denkt an die Brüste eines Mädchens; der zehnte denkt voller Mitleid an seinen Hund – der begriffen hatte, dass man ihn in den leeren Unterständen zurücklassen wollte, und sich auf den Panzer geworfen und mit raschem, kläglichem Schwanzwedeln versucht hatte, den Panzerschützen dazu zu bewegen, ihn mitzunehmen; der elfte sinnt darüber nach, wie schön es wäre, in den Wald zu ziehen, allein in einer kleinen Hütte zu leben, sich von Beeren zu ernähren, Quellwasser zu trinken und barfuß zu laufen; der zwölfte überlegt hin und her, ob er sich nicht krank stellen und in irgendeinem Lazarett einnisten solle; der dreizehnte erzählt sich ein Märchen, das er in der Kindheit gehört hat; der vierzehnte erinnert sich an den Abschied von seinem Mädchen und ist gar nicht traurig, sondern froh darüber, dass es ein Abschied für immer ist; der fünfzehnte denkt an die Zukunft – schön wäre es, wenn er nach dem Krieg Direktor einer Gaststätte werden könnte.
    »Ach, ihr Jungs«, denkt Nowikow.
    Sie blicken ihn an. Wahrscheinlich kontrolliert er, ob die Uniform intakt ist, horcht auf das Motorengeräusch, schließt vom Klang auf die Erfahrung – oder auf die

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