Leben und Schicksal
den Erinnerungen der Tochter Grossmans wissen wir, wie sehr ihr Vater dem Mythos vom sowjetischen Volkskrieg verpflichtet war. Bei abendlichen Zusammenkünften der Familie wurden häufig Lieder aus dem Krieg gesungen. Unweigerlich steuerte der Abend seinem Höhepunkt zu: Mit seiner unmelodiösen, donnernden Stimme intonierte ihr Vater das berühmte Lied vom »Heiligen Krieg«. Das Lied übte eine solche Macht auf ihn aus, dass er aufstehen musste. »Vater steht stramm, die Hände an der Hosennaht, als wäre er auf einer Parade. Sein Gesicht ist ernst und feierlich. ›Steh auf, steh auf du Riesenland / Heraus zur großen Schlacht / … Dies ist ein Krieg des Volkes / ein heiliger Krieg / Den Nazihorden Widerstand! / Tod derFaschisten-Macht!‹« 17
Für Grossman barg das Heldenopfer des Volkes die Wahrheit des Krieges in sich – die Wahrheit nicht im Sinne eines Sozialhistorikers, der die im Roman unterdrückten, schmutzigen und dezidiert unheroischen Seiten des Krieges in den Blick nehmen würde, sondern im moralischen Verständnis eines Schriftstellers, dem es darum ging, die geistigen Ressourcen und Antriebsfedern in seiner Gesellschaft freizulegen und damit den Weg für eine bessere Zukunft zu bahnen.
Grossmans Darstellung der soldatischen Kriegserfahrung besitzt Glaubwürdigkeit und Stärke, weil sie seinem eigenen Leben und dem Leben der Menschen in seiner Umgebung entlehnt war. Das unterschied ihn von Tolstoi, der, wie Grossmans Kommissar Krymow bemerkte, die Napoleonische Zeit selbst nicht erlebte und den Krieg von 1812 aus einer Distanz von über fünfzig Jahren beschrieb. Ferner war Graf Tolstoi, der als Offizier im Krimkrieg diente, durch erhebliche soziale Barrieren von den einfachen Soldaten getrennt, deren Volksgeist er zu erfassen suchte. Umgekehrt verfügte Grossman über eine sprichwörtliche Fähigkeit, das Vertrauen von Rotarmisten im Handumdrehen zugewinnen. 18
Tolstoi schrieb »Krieg und Frieden« in einer glücklichen Phase seines Lebens, was den überschwänglichen Ton des Romans mit erklären mag. Selbst die von Leichen übersähten Wiesen bei Borodino erscheinen im erlösenden Glanz der Natur. Der Nebel hat sich gelichtet, und die »schrägen Strahlen der aufsteigenden hellen Sonne warfen über das ganze Gelände in der reinen Morgenluft ein scharfes, golden und rosafarben schimmerndes Licht«. Grossmans Tonalität ist viel düsterer. Kein Sonnenstrahl durchdringt den Nebel, der das Konzentrationslager in den Morgenstunden umhüllt. Allein die Scheinwerfer einer militärischen Lastwagenkolonne beleuchten die Szene. Ihr Licht fällt auf die Stacheldrahtreihen des Lagerzauns, während im Hintergrund Sirenen heulen.
Die moralische Verpflichtung, der Toten zu gedenken, zieht sich leitmotivartig durch Grossmans Werk. Sie prägte sein gesamtes Leben nach dem Krieg. Sie war auch der Grund für sein Bemühen, dokumentarische Zeugnisse der Massaker an den sowjetischen Juden in der Form eines »Schwarzbuchs« zu sammeln – ein von Albert Einstein angeregtes Projekt, an dem Grossman im Auftrag des Jüdischen Antifaschistischen Komitees arbeitete. Die Arbeit des Komitees wurde von den Behörden torpediert. »Man darf die Toten nicht aufteilen«, lautete der Einwand staatlicher Stellen auf alle Initiativen, jüdisches Leid zu dokumentieren. Alle Völker der Sowjetunion hätten unter den Deutschen gelitten; keinem einzelnen Volk gebühre hierbei ein besonderes Gedächtnis. Statt von ermordeten Juden sprach man von der »Vernichtung friedlicher Sowjetbürger«, was einer Leugnung des Holocaust nahekam. Die antisemitische Kampagne der späten Stalinzeit führte zur Schließung des Jüdischen Antifaschistischen Komitees wie auch des jüdischen Verlags, in dem das »Schwarzbuch« bereits druckfertig war. Auch nach Stalins Tod durfte die Dokumentation nicht in der Sowjetunionerscheinen. 19
Für Grossman war es essentiell, den Horror der deutschen Verbrechen nicht in Form abstrakter Tabellen und Statistiken zu erfassen, denn dies würde der Dehumanisierung der Opfer nur noch weiter Vorschub leisten. Das »Schwarzbuch« hat einen sehr persönlichen Fokus, es erwähnt einzelne Menschen bei ihrem Namen und enthält viele persönliche Details, eben weil es darum ging, einer größtmöglichen Zahl von Opfern als einzigartigen Individuen zu gedenken. Am bewegendsten zeigt sich dieses Bemühen, mit den Toten zu kommunizieren, in Wassili Grossmans Verhältnis zu seiner Mutter. Im Unterschied zu seinem Romanhelden
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