Leben und Schicksal
voller Rechtecke und Parallelogramme, welche die Erde, den herbstlichen Himmel, den Nebel zerschnitten.
Langgezogen und leise heulten in der Ferne Sirenen auf.
Die Straße schmiegte sich an die Bahnlinie, und die Lastwagenkolonne, beladen mit Papiersäcken voll Zement, fuhr eine Weile mit fast derselben Geschwindigkeit neben dem endlos langen Güterzug her. Die Fahrer in den Soldatenmänteln sahen nicht zu den Waggons neben sich hinüber, zu den bleichen Flecken menschlicher Gesichter.
Aus dem Nebel tauchte der Lagerzaun auf – Stacheldrahtreihen, die zwischen Pfosten aus Eisenbeton gezogen waren. Baracken bildeten breite, gerade Straßen. In dieser Einförmigkeit kam die ganze Unmenschlichkeit des riesigen Lagers zum Ausdruck.
Unter den Millionen russischer Bauernhütten gibt es nicht zwei Hütten, die einander völlig gleichen, es kann sie auch nicht geben. Alles Lebendige ist einmalig. Zwei Menschen, zwei Heckenrosenbüsche können nicht identisch sein. Das Leben verdorrt dort, wo man mit Gewalt versucht, seine Eigenarten und Besonderheiten auszulöschen.
Mit aufmerksamem Blick verfolgte der grauhaarige Lokführer die an ihm vorbeiziehenden Betonpfosten, die hohen Masten mit den sich drehenden Scheinwerfern, die Betonwachttürme, auf denen hinter dem Rundlauf der Posten am schwenkbaren Maschinengewehr sichtbar wurde. Der Lokführer gab dem Gehilfen mit den Augen ein Zeichen, die Lokomotive pfiff den Warnton. Das elektrisch beleuchtete Schilderhaus tauchte vor ihnen auf, die Autoschlange am heruntergelassenen gestreiften Schlagbaum, das rote Stierauge der Ampel.
Aus der Ferne hörte man die Pfiffe des entgegenkommenden Zuges. Der Lokführer sagte zum Gehilfen: »Da kommt Kamerad Zucker, ich erkenne ihn an seinem frechen Ton. Er hat ausgeladen und fährt leer nach München.«
Der Leerzug begegnete donnernd dem zum Lager fahrenden Transport. Die zerrissene Luft knatterte, graue Lichtstreifen flimmerten zwischen den Waggons hindurch. Plötzlich schlossen sich die Landschaft und das herbstliche Morgenlicht aus den Fetzen wieder zu einem gleichmäßigen Gewebe zusammen.
Der Gehilfe des Lokführers holte einen Taschenspiegel heraus und betrachtete seine schmutzige Backe. Der Lokführer bat mit einer Handbewegung um den Spiegel.
Der Gehilfe sagte mit erregter Stimme: »Ach, Parteigenosse Apfel, glauben Sie mir, wir hätten zum Mittagessen zurück sein können und nicht erst um vier Uhr morgens und völlig erledigt – wenn diese Desinfektion der Waggons nicht gewesen wäre. Als ob wir das nicht bei uns im Depot hätten machen können.«
Der Alte war das ewige Gerede über die Desinfektion leid.
»Gib den langen Ton«, sagte er, »sie leiten uns nicht zur Nebenstelle, sondern direkt zum Hauptausladeplatz.«
2
Im deutschen Lager war Michail Sidorowitsch Mostowskoi zum ersten Mal nach dem Zweiten Kongress der Kommunistischen Internationale gezwungen, seine Fremdsprachenkenntnisse praktisch anzuwenden. Vor dem Krieg, als er in Leningrad lebte, musste er nur selten mit Ausländern sprechen. Jetzt erinnerte er sich wieder an die Jahre der Londoner und Schweizer Emigration; dort, in der Gemeinschaft der Revolutionäre, hatten sie in vielen Sprachen Europas gesprochen, diskutiert und gesungen.
Sein Pritschennachbar, der italienische Priester Guardi, sagte Mostowskoi, dass die Menschen im Lager sechsundfünfzig verschiedenen Nationalitäten angehörten.
Das Schicksal, die Gesichtsfarbe, die Kleidung, die schlurfenden Schritte, die Einheitssuppe aus Steckrüben und künstlichem Sago, den die russischen Häftlinge »Fischauge« nannten – all das hatten die Tausende von Barackenbewohnern gemein.
Für die Lagerleitung unterschieden sich die Menschen im Lager nach Nummern und nach der Farbe der Stoffstreifen, die auf die Jacke aufgenäht waren: rot bei den politischen Häftlingen, schwarz bei den Saboteuren, grün bei den Dieben und Mördern.
Die Menschen verstanden einander in ihrer Sprachenvielfalt nicht, doch es verband sie das gleiche Schicksal. Fachleute für Molekularphysik und alte Handschriften lagen auf ihren Pritschen neben italienischen Bauern und kroatischen Hirten, die nicht einmal ihren Namen schreiben konnten. Der, der einst bei seinem Koch das Frühstück bestellt und die Haushälterin mit seinem schlechten Appetit in Aufregung versetzt hatte, und der, der gesalzenen Dorsch gegessen hatte, gingen nebeneinander mit klappernden Holzsohlen zur Arbeit und hielten sehnsüchtig Ausschau, ob nicht die
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