Leben und Schicksal
hatte den Eindruck, die Geschichte habe die Seiten der Bücher verlassen, um mit dem Leben eins zu werden.
Mit wacheren Sinnen nahm er die Farbe des Himmels und der Wolken über Stalingrad und das Glitzern der Sonne auf dem Wasserspiegel wahr. Diese Empfindungen erinnerten ihn an seine Kindheit, wenn ihn der erste Schnee, ein sommerliches Gewitter oder ein Regenbogen mit Glück erfüllten. Dieses wunderbare Gefühl kommt mit den Jahren fast allen Lebewesen, die sich an das Wunder ihres Daseins gewöhnt haben, abhanden.
Alles, was Krymow im gegenwärtigen Leben falsch und verfehlt erschienen war, hier in Stalingrad war es nicht zu spüren.
»So war’s, als Lenin noch gelebt hat«, dachte er.
Er hatte das Gefühl, dass er hier ein anderes Verhältnis zu den Leuten hatte, ein besseres als vor dem Krieg. Er empfand sich nicht als Stiefsohn der Zeit, nein, es war genau so wie während der Einkesselung zu Beginn des Krieges. Erst vor kurzem hatte er sich noch jenseits der Wolga mit Vergnügen auf seine Referate vorbereitet und es nur für selbstverständlich gehalten, dass ihn die politische Abteilung auf eine Lektorenstelle gesetzt hatte.
In jüngster Zeit aber bohrte in ihm ständig ein bedrückendes Gefühl des Gekränktseins. Weshalb hatte man ihn vom Posten des Kriegskommissars abgesetzt? Er hatte doch sein Amt nicht schlechter, eher besser als viele andere ausgefüllt.
Gut kam er in Stalingrad mit den Leuten aus. Gleichheit und Würde lebten nebeneinander auf diesem blutüberströmten lehmigen Abhang.
Fast überall in Stalingrad war Interesse vorhanden für den Aufbau der Kolchosen nach dem Krieg, für die künftigen Beziehungen zwischen den großen Völkern und ihren Regierungen. Der Kriegsalltag der Rotarmisten und ihre Arbeit mit dem Spaten, mit dem Kartoffelschäler oder mit dem Schustermesser, wenn sie Bataillonsschuster waren – alles schien einen direkten Bezug zum Leben des eigenen Volkes und dem der anderen Völker und Staaten nach dem Krieg zu haben.
Fast alle glaubten, dass das Gute im Krieg siegen würde und dass rechtschaffene Männer, die ihr eigenes Leben nicht geschont hatten, ein gutes und gerechtes Dasein würden aufbauen können. Zu diesem rührenden Glauben bekannten sich Männer, die der Meinung waren, dass es ihnen wohl selbst kaum beschieden sei, je wieder den Frieden zu erleben, die jeden Abend darüber staunten, dass sie den Tag überlebt hatten.
55
Am Abend fand sich Krymow nach einem Referat im Unterstand bei Oberstleutnant Batjuk zu Gast, dem Kommandeur der Division, die auf den Hängen des Mamajew-Hügels und bei der Banny-Schlucht Stellung bezogen hatte.
Batjuk, ein Mann von gedrungenem Wuchs mit dem von der Erschöpfung des Kampfes gezeichneten Gesicht des Frontsoldaten, freute sich über den Besuch Krymows.
Auf Batjuks Tisch wurden zum Abendessen eine gute Sülze und eine heiße hausgemachte Pirogge aufgetragen. Batjuk schenkte Krymow Wodka ein und meinte dabei augenzwinkernd: »Als ich hörte, dass Sie mit Ihren Referaten zu uns kommen würden, fragte ich mich, zu wem Sie wohl zuerst gehen würden – zu Rodimzew oder zu mir. Aber dann waren Sie doch zuerst bei Rodimzew.«
Er ächzte und lachte.
»Wir leben hier wie auf dem Dorf. Wenn es abends still wird, fangen wir an, uns gegenseitig zuzurufen – ›was hast du zu Mittag gegessen, wer ist bei dir gewesen, zu wem gehst du, was hat die Führung zu dir gesagt, wer hat die bessere Sauna und über wen ist in der Zeitung geschrieben worden‹; über uns schreibt keiner, immer bloß über Rodimzew; wenn man nach den Zeitungen geht, ist er der Einzige, der in Stalingrad kämpft.«
Batjuk bewirtete den Gast, nahm selbst jedoch nur Tee und Brot zu sich. Er machte sich nichts aus gutem Essen.
Krymow fiel auf, dass Batjuks gelassene Gesten und seine schwerfällige ukrainische Redeweise nicht den schwierigen Gedankengängen entsprachen, denen er gerade nachhing.
Nikolai Grigorjewitsch war betrübt, dass ihm Batjuk keine einzige Frage stellte, die sich auf sein Referat bezog, so als hätte dieses gar nicht die Themen berührt, die Batjuk wirklich beschäftigten.
Batjuks Schilderung der ersten Kriegsstunden setzte Krymow in Erstaunen. Während des allgemeinen Rückzugs von der Grenze hatte Batjuk sein Regiment nach Westen geführt, um die Übergangsstellen von den Deutschen zurückzuerobern. Das auf der Landstraße zurückweichende Oberkommando glaubte, dass er zu den Deutschen überlaufen wolle. Auf dieser Landstraße wurde
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