Leben und Schicksal
nach Kasan bringt. Ich brauche Monteure, habe aber nur noch Kredit für die Kinderkrippe, also führe ich die Monteure als Kindergärtnerinnen. Der Zentralismus hält uns an der Gurgel! Ein Erfinder schlug dem Direktor vor, anderthalbtausend Maschinenteile statt der geplanten zweihundert herzustellen, der Direktor wies ihm die Tür. Der Plan wird schließlich nach Gesamtgewicht und nicht nach Stückzahl erfüllt, wozu sich also unnütz Sorgen schaffen. Und wenn der ganze Betrieb stillsteht, weil es an Material fehlt, das man auf dem Basar für dreißig Rubel kaufen könnte, wird er lieber einen Verlust von zwei Millionen hinnehmen, ehe er das Risiko eingeht, das Zeug für dreißig Rubel zu erstehen.«
Artelew ließ einen raschen Blick über seine Zuhörer schweifen und sprach hastig weiter, so als fürchtete er, man würde ihm das Wort abschneiden.
»Der Arbeiter bekommt wenig, aber der Lohn entspricht seiner Leistung. Ein Limonadenverkäufer auf der Straße bekommt fünfmal so viel wie ein Ingenieur. Und die Oberen, der Direktor, die Leute in der Verwaltung, die wissen nur eines: Erfüll den Plan! Hast du auch nichts zu fressen – der Plan muss erfüllt werden! Wir hatten einen Direktor, Schmatkow hieß er, der brüllte in den Sitzungen: ›Der Betrieb ist euch mehr als die leibliche Mutter, jeder muss Blut schwitzen, um den Plan zu erfüllen, und wer das nicht kapiert, dem werde ich selbst das Blut heraustreiben.‹ Und plötzlich erfahren wir, dass unser Schmatkow nach Woskressensk versetzt wird. Ich frage ihn: ›Wie können Sie den Betrieb im Stich lassen, Genosse Schmatkow?‹ Und er darauf, ganz unbekümmert, ohne Demagogie: ›Ja, wissen Sie, unsere Kinder gehen in Moskau auf die Hochschule, und von Woskressensk ist es nach Moskau nicht so weit. Außerdem hat man uns dort eine bessere Wohnung versprochen, mit Garten, meine Frau ist ja nicht gesund, braucht frische Luft.‹ Das eben wundert mich: Wie kann der Staat solchen Menschen vertrauen, während die Arbeiter und die großen Gelehrten, die nicht in der Partei sind, jede Kopeke zehnmal umdrehen müssen?«
»Na, sehr einfach«, sagte Madjarow, »diesen Burschen ist mehr anvertraut als bloß Betriebe und Hochschulen, sie verwalten das Herz des Systems, das Allerheiligste: die Leben spendende Kraft der sowjetischen Bürokratie.«
»Das sage ich ja«, fuhr Artelew fort, ohne auf den Scherz zu achten, »ich mag meine Arbeit, ich schone mich nicht. Aber fürs Wichtigste reicht es bei mir nicht. Ich bringe es nicht zustande, lebendige Menschen Blut schwitzen zu lassen. Ich selbst gebe mein Letztes, aber die Arbeiter tun mir irgendwie leid.«
Strum aber, der nicht verstehen wollte, fühlte das Bedürfnis, Madjarow zu widersprechen, obwohl ihm alles, was Madjarow gesagt hatte, berechtigt erschien.
»Sie lassen die Logik vermissen«, sagte er. »Ist es denn heute wirklich so, dass sich die Interessen des Menschen nicht voll mit den Interessen des Staates decken, der die Rüstungsindustrie geschaffen hat? Ich glaube, jeder von uns braucht die Kanonen, Panzer und Flugzeuge, mit denen unsere Kinder und Brüder bewaffnet sind.«
»Vollkommen richtig«, sagte Sokolow.
66
Marja Iwanowna begann Tee auszuschenken. Man sprach über Literatur.
»Dostojewski gerät bei uns in Vergessenheit«, sagte Madjarow. »In den Bibliotheken sieht man es ungern, wenn einer nach ihm fragt, die Verlage bringen keine Neuauflagen heraus.«
»Weil er ein Reaktionär ist«, erklärte Strum.
»Stimmt. Er hätte die ›Dämonen‹ nicht schreiben sollen«, pflichtete ihm Sokolow bei.
Doch da widersprach Strum: »Sind Sie sicher, Pjotr Lawrentjewitsch, dass die ›Dämonen‹ nicht hätten geschrieben werden sollen? Das trifft doch wohl eher auf das ›Tagebuch eines Schriftstellers‹ zu.«
»Genies werden nicht zurechtfrisiert«, sagte Madjarow. »Dostojewski lässt sich nicht in unsre Ideologie zwängen. Den Majakowski, zum Beispiel, den hat Stalin ganz zu Recht den besten und begabtesten Dichter unserer Zeit genannt. Er ist ganz Staatlichkeit in seinen Emotionen. Dostojewski aber – ganz Menschlichkeit, menschlich selbst in seiner Staatlichkeit.«
»Wenn man so denkt«, erwiderte Sokolow, »passt die ganze Literatur des neunzehnten Jahrhunderts nicht in unsere Ideologie.«
»Aber nein, sagen Sie das nicht«, verwies ihn Madjarow. »Tolstoi hat den Gedanken des Volkskriegs poetisiert, und wer steht heute an der Spitze des gerechten Volkskrieges? Der Staat. Wie Achmet
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