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Leben und Schicksal

Leben und Schicksal

Titel: Leben und Schicksal Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Wassili Grossman
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»Also sprach Zarathustra« lasen und die Kämpfer gegen die Ketzereien Bakunins wappneten … Er berichtete von zaristischen Fähnrichen, die zu Marschällen und Kommandeuren ersten Ranges aufrückten.
    Einmal sagte er mit gedämpfter Stimme: »Das geschah in einer Zeit, als LewDawidowitsch 39 noch Lew Dawidowitsch war.« Und seine traurigen Augen – Augen, wie man sie bei dicken, kranken, klugen Männern findet – bekamen einen besonderen Ausdruck.
    Dann lächelte er und sagte: »In unserem Regiment gründeten wir ein Orchester aus Blas-, Saiten- und Zupfinstrumenten. Es spielte immer dieselbe Melodie: ›Ein Krokodil ging auf der Straße, es war so groß und grün …‹ Bei jeder Gelegenheit, ob zum Angriff oder beim Begräbnis der Helden, wurde dieses ›Krokodil‹ geschmettert. Als wir auf dem entsetzlichen Rückzug waren, kam Trotzki zu uns, um unseren Kampfgeist zu stärken – das ganze Regiment wurde zu einer Kundgebung zusammengetrommelt, eine staubige, langweilige Kleinstadt, Hunde streunten umher, mitten auf dem Platz war eine Rednerbühne errichtet, ich weiß noch, es war eine Gluthitze, wir waren wie benommen, und da rief Trotzki mit der großen roten Schleife und glänzenden Augen: ›Genossen Rotarmisten‹ – und seine Stimme klang wie Donnerhall. Dann schmetterte das Orchester das ›Krokodil‹. Und merkwürdig, dieses Balalaika-Krokodil benebelte uns mehr den Verstand als die ›Internationale‹, gespielt von einem großen Orchester, wir wären mit bloßen Händen, unbewaffnet, nach Warschau oder Berlin marschiert …«
    Madjarows Bericht war ruhig und gelassen, er rechtfertigte nicht jene Divisions- und Korpskommandeure, die später als Feinde des Volkes und als Landesverräter erschossen wurden, er rechtfertigte auch Trotzki nicht, aber aus seiner Begeisterung für Kriworutschko oder Dubow, aus der Achtung, mit der er die Namen der 1937 vernichteten Kommandeure und Kommissare nannte, konnte man heraushören, dass er an eine Schuld der Marschälle Tuchatschewski, Blücher, Jegorow, des Oberkommandierenden des Moskauer Militärkreises Muralow, der Armeekommandeure Lewandowski, Gamarnik, Dybenko und Bubnow nicht glaubte und sie alle, wie auch Unschlicht und den Ersten Stellvertreter Trotzkis, Skljanski, nicht für Volksfeinde und Landesverräter hielt.
    Die ruhige Gelassenheit von Madjarows Stimme schien unglaublich. Hatte nicht der Staat in seiner Allmacht eine neue Vergangenheit geschaffen, die Geschichte der Feldzüge umgeschrieben, neue Helden bereits geschehener Ereignisse ernannt und die wahren Helden aus dem Dienst entlassen? Der Staat war mächtig genug, alles, was geschehen war, was jahrhundertelang Gültigkeit hatte, neu zu inszenieren, Granit neu zu behauen und Bronze umzugießen, verklungene Reden umzuschreiben, Personen auf Dokumentarfotos neu zu gruppieren.
    Es entstand in der Tat eine neue Geschichte. Selbst jene, die die alten Zeiten miterlebt hatten, lernten nun aufs Neue ihr gelebtes Leben kennen, machten freiwillig die Wandlung von Helden zu Feiglingen durch, von Revolutionären zu ausländischen Agenten.
    Aber wenn man Madjarow zuhörte, hatte man das Gefühl, dass unweigerlich eine neue Logik kommen würde, die Logik der Wahrheit. Vor dem Krieg hatte es solche Gespräche nicht gegeben.
    Einmal sagte er: »Alle, alle diese Menschen würden heute gegen den Faschismus kämpfen, selbstlos und bis zum letzten Blutstropfen. Schlimm, dass man sie vernichtet hat.«
    Dem Chemiker Wladimir Romanowitsch Artelew, einem alten Kasaner, gehörte die Wohnung, die die Sokolows gemietet hatten. Seine Frau kam erst abends von der Arbeit nach Hause. Zwei Söhne waren an der Front. Artelew selbst war Werksleiter in einem chemischen Betrieb. Seine Kleidung war ärmlich, einen Wintermantel besaß er nicht; um warm zu bleiben, trug er unter dem Regenmantel eine wattierte Jacke und auf dem Kopf eine zerknitterte, speckige Schirmmütze, die er sich auf der Straße tief über die Ohren zog.
    Wenn er bei Sokolows eintrat, auf die steifen roten Finger hauchte und schüchtern in die Runde lächelte, schien es Strum, als wäre nicht der Hausherr, nicht der Chef einer großen Werkshalle eines großen Betriebs hereingekommen, sondern ein mittelloser Nachbar oder einer, der von Almosen lebt.
    So auch an diesem Abend: Da stand er mit unrasierten, eingefallenen Wangen an der Tür, ängstlich besorgt, keine Diele knarren zu lassen, und lauschte den Worten Madjarows.
    Marja Iwanowna ging auf dem Weg in die

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