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Leben und Schicksal

Leben und Schicksal

Titel: Leben und Schicksal Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Wassili Grossman
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Küche an ihm vorbei und flüsterte ihm etwas ins Ohr. Er schüttelte erschrocken den Kopf, offensichtlich lehnte er eine Einladung zu Tisch ab.
    »Gestern«, sagte Madjarow, »erzählte mir ein Oberst, der zur Behandlung hier ist, die Front-Parteikommission habe eine Untersuchung gegen ihn eingeleitet, weil er einen Leutnant verprügelt hat. Im Bürgerkrieg war so ein Übergriff unmöglich.«
    »Haben Sie nicht selbst erzählt, dass der Partisanenführer Schtschors die Mitglieder einer Kommission des Revolutionären Kriegsrats auspeitschen ließ?«, fragte Strum.
    »In diesem Fall prügelte ein Untergebener seinen Vorgesetzten«, erwiderte Madjarow, »das ist ein Unterschied.«
    »In der Industrie ist es dasselbe«, sagte Artelew. »Unser Direktor duzt alle Ingenieure, sagt man aber zu ihm ›Genosse Schurjew‹, ist er beleidigt, will mit Vor- und Vatersnamen, Leonti Kusmitsch, angeredet werden. Dieser Tage hat ein alter Chemiker seinen Zorn geweckt, zuerst beschimpfte Schurjew den Alten ganz unflätig, dann brüllte er ihn an: ›Was ich gesagt habe, hast du zu machen, sonst kriegst du einen Tritt in den Arsch und fliegst aus meinem Betrieb‹ – der Alte aber ist einundsiebzig.«
    »Und die Gewerkschaft schweigt?«, fragte Sokolow.
    »Ach was, Gewerkschaft«, sagte Madjarow, »die Gewerkschaft ruft zu Opfern auf: Vor dem Krieg steckt man in den Kriegsvorbereitungen, während des Kriegs heißt es: Alles für die Front, und nach dem Krieg wird die Gewerkschaft zum Wiederaufbau aufrufen. Wer hat schon Zeit für einen alten Mann?«
    Marja Iwanowna fragte Sokolow leise: »Soll ich den Tee auftragen?«
    »Natürlich, natürlich, her mit dem Tee.«
    »Wie wunderbar lautlos sie sich bewegt«, dachte Strum, sein zerstreuter Blick lag auf den mageren Schultern Marja Iwanownas, die durch die halb geöffnete Tür in die Küche schlüpfte.
    »Ach, meine lieben Genossen«, sagte plötzlich Madjarow. »Könnt ihr euch vorstellen, was das ist, die Pressefreiheit? Da schlagt ihr an einem friedlichen Nachkriegsmorgen die Zeitung auf und findet darin – statt eines jubelnden Leitartikels, statt der Briefe der Werktätigen an den großen Stalin, statt der Berichte über die Arbeitswacht einer Stahlgießerbrigade zu Ehren der Wahlen zum Obersten Sowjet und darüber, wie die Werktätigen der Vereinigten Staaten das neue Jahr in gedrückter Stimmung wegen der wachsenden Arbeitslosigkeit und Armut begonnen haben –, wisst ihr, was ihr stattdessen in der Zeitung findet? Information! Könnt ihr euch eine solche Zeitung vorstellen? Eine Zeitung, die Information liefert!
    Und da könnt ihr nun lesen: eine Notiz über die Missernte im Kursker Gebiet, den Bericht einer Kontrollkommission über die Zustände im Butyrka-Gefängnis, eine Polemik über Sinn und Unsinn des Weißmeer-Ostsee-Kanals. Und ihr könnt erfahren, dass sich der Arbeiter Golopusow gegen eine neue Staatsanleihe ausgesprochen hat.
    Kurzum, ihr wisst, was im Lande passiert: Ernten und Missernten, Enthusiasmus und Einbruchsdiebstahl, die Inbetriebnahme von neuen Gruben und Grubenunglücke in alten, Differenzen zwischen Molotow und Malenkow … Ihr lest Berichte über den Verlauf eines Streiks, der ausgebrochen war, weil der Betriebsdirektor einen siebzigjährigen Chemiearbeiter beleidigt hat; ihr lest die Reden von Churchill und Blum und nicht, was sie angeblich gesagt haben; ihr wisst, wie viele Menschen am Vortag in Moskau Selbstmord begangen haben, wie viele Unfallopfer in die Krankenhäuser eingeliefert worden sind. Man sagt euch, warum es keinen Buchweizen in den Geschäften gibt, nicht bloß, dass aus Taschkent per Flugzeug die ersten Erdbeeren angeliefert worden sind. Aus der Zeitung erfahrt ihr, wie viel Gramm Getreide man in der Kolchose pro Tagesleistung bekommt, und nicht von eurer Putzfrau, deren Nichte nach Moskau gekommen ist, um hier Brot zu kaufen. Ja, ja, und bei alldem bleibt ihr voll und ganz sowjetische Menschen.
    Ihr betretet einen Buchladen, kauft ein Buch und lest, ohne eure Staatszugehörigkeit zu verleugnen, amerikanische, englische, französische Philosophen, Historiker, Wirtschaftler, politische Kommentatoren. Ihr kommt von selbst darauf, worin sie unrecht haben; ihr geht durch die Straßen spazieren, und keiner hat sich an eure Fersen geheftet.«
    In dem Moment, als Madjarow mit seiner Rede zu Ende war, kam Marja Iwanowna mit dem Teegeschirr aus der Küche.
    Sokolow schlug plötzlich mit der Faust auf den Tisch.
    »Genug! Ich bitte nachdrücklich

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