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Leben und Schicksal

Leben und Schicksal

Titel: Leben und Schicksal Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Wassili Grossman
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das Wichtigste gesagt: dass Menschen Menschen sind und erst danach Erzbischöfe, Russen, Ladenbesitzer, Tataren, Arbeiter. Versteht ihr? Die Menschen sind nicht gut oder schlecht, weil sie Erzbischöfe oder Arbeiter sind, Tataren oder Ukrainer, nein, die Menschen sind gleich, weil sie Menschen sind. Vor einem halben Jahrhundert haben Leute in engstirniger Parteilichkeit gemeint, Tschechow sei der Ausdruck einer zeitlosen Epoche. In Wahrheit war er der Träger des größten Banners, das je in Russland während seiner tausendjährigen Geschichte gehisst worden ist – der wahren, russischen, gütigen Demokratie, versteht ihr, der russischen Menschenwürde, der russischen Freiheit. Unsere Menschlichkeit ist ja immer sektiererisch unversöhnlich und hart. Vom ProtopopenAwwakum 41 bis zu Lenin waren unsere Menschlichkeit und unsere Freiheit parteilich und fanatisch – unbarmherzig wird der Mensch einer abstrakten Menschlichkeit geopfert. Selbst Tolstoi mit seiner Predigt des gewaltlosen Widerstands gegen das Böse ist unduldsam und geht dabei, was noch wesentlicher ist, nicht vom Menschen, sondern von Gott aus. Für ihn ist es wichtig, dass die Idee triumphiert, die das Gute behauptet, und ist es nicht immer so, dass die Propheten bestrebt sind, Gott den Menschen mit Gewalt aufzuzwingen? Und bei uns in Russland macht man dabei vor gar nichts halt, da herrscht dann Mord und Totschlag – ohne Pardon.
    Tschechow sagte: Möge Gott uns ein wenig Platz machen, mögen die sogenannten großen fortschrittlichen Ideen ein wenig zur Seite treten, beginnen wir mit dem Menschen, seien wir gut und aufmerksam zum Menschen, wer immer es sei – ein Erzbischof, ein Bauer, ein millionenschwerer Fabrikant, ein Kettensträfling aus Sibirien oder ein Kellner aus dem Restaurant; beginnen wir damit, dass wir den Menschen achten, bedauern, lieben wollen, anders geht es ganz und gar nicht. Genau das heißt Demokratie – die bislang nicht verwirklichte Demokratie des russischen Volkes.
    Der russische Mensch hat in dem einen Jahrtausend allerlei erlebt: Größe und Übergröße, eines jedoch hat er nie erfahren – die Demokratie. Das ist, nebenbei, der Unterschied zwischen den Dekadenzlern und Tschechow. Dem Dekadenzler kann der Staat in seinem Groll auch mal eins über den Schädel hauen, einen Tritt in den Hintern versetzen. An Tschechow aber hat der Staat das Wesentliche nicht verstanden, darum nur duldet er ihn. Die Demokratie können wir in unserem Haushalt nicht gebrauchen, die wahre, versteht sich, die menschliche.«
    Man sah, dass die Schärfe von Madjarows Worten Sokolow aufs Äußerste missfiel.
    Strum aber, der es bemerkte, sagte mit einem ihm selbst unverständlichen Vergnügen: »Gut gesagt, wahr und klug. Ich ersuche lediglich um Nachsicht für Skrjabin. Der fällt, scheint’s, unter die Dekadenzler, aber ich liebe ihn.«
    Er winkte ab, als Sokolows Frau eine Schüssel mit Marmelade vor ihn stellte, und sagte: »Nein danke, ich mag nicht.«
    »Schwarze Johannisbeeren«, sagte sie.
    Er sah in ihre kastanienbraunen, gelb durchzogenen Augen und fragte: »Habe ich Ihnen denn meine Schwäche gebeichtet?«
    Sie nickte schweigend, lächelte. Sie hatte unregelmäßige Zähne, schmale und matte Lippen. Das Lächeln ließ ihr blasses, ein wenig graues Gesicht plötzlich ganz reizvoll und anziehend erscheinen.
    »Eine prächtige Frau, sie kann wirklich hübsch sein, wenn bloß das Näschen nicht dauernd rot anliefe«, dachte Strum.
    Karimow wandte sich an Madjarow: »Erklären Sie mir nur, wie sich Ihr leidenschaftliches Plädoyer für die Tschechow’sche Menschlichkeit mit Ihrer Hymne auf Dostojewski in Einklang bringen lässt? Für Dostojewski sind nicht alle Menschen in Russland gleich. Hitler hat Tolstoi einen Kretin genannt, aber Dostojewskis Porträt hängt, heißt es, in seinem Arbeitszimmer. Ich bin ein Tatar, gehöre einer nationalen Minderheit an, bin in Russland geboren und will dem russischen Schriftsteller seinen Hass gegen das, was er Polenpack, Judenpack nannte, nicht verzeihen. Ich kann es nicht, mag er auch noch so ein großes Genie sein. Zu viel Blut haben wir im zaristischen Russland vergossen, zu oft sind wir bespuckt und in Pogromen malträtiert worden. In Russland hat ein großer Schriftsteller nicht das Recht, über Minderheiten herzuziehen, Polen und Tataren, Juden, Armenier oder Tschuwaschen zu verachten.«
    Der grauhaarige dunkle Tatar sagte mit einem bösen und hochmütigen mongolischen Grinsen zu Madjarow:

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