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Leben und Schicksal

Leben und Schicksal

Titel: Leben und Schicksal Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Wassili Grossman
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aussahen.
    Beim Verlassen dieses halb in die Erde eingelassenen Gebäudes stießen Liss und seine Begleiter auf den soeben mit dem Zug aus Berlin eingetroffenen Planungsbeauftragten, Professor Stahlgang, und den leitenden Bauingenieur, von Reinecke, einen hünenhaften Mann in gelber Lederjacke.
    Stahlgang atmete röchelnd, die feuchte Luft hatte bei ihm einen Asthmaanfall hervorgerufen. Die ihn umringenden Ingenieure machten ihm Vorhaltungen, dass er sich nicht gut genug in Acht nähme. Alle wussten, dass sich ein Bildband mit Stahlgangs Arbeiten in Hitlers Privatbibliothek befand.
    Der Bauplatz unterschied sich durch nichts von all den anderen gigantischen Bauvorhaben um die Mitte des zwanzigsten Jahrhunderts.
    Rund um die Baugruben ertönten die Pfiffe der Aufseher, das Knirschen der Bagger, das Quietschen der fahrenden Kräne und die Signale der kleinen Dampfloks.
    Liss und seine Begleiter gingen auf ein rechteckiges, fensterloses Gebäude zu. Alle übrigen Bauten, die Öfen aus rotem Ziegelstein, die breiten trichterförmigen Schlote, die Kontrolltürmchen und Wachttürme mit den Glashauben waren auf dieses graue, stirn- und augenlose Gebäude hin ausgerichtet.
    Die Straßenarbeiter waren gerade fertig mit dem Asphaltieren der Zufahrt. Unter den Dampfwalzen kam grauer, heißer Dampf hervor und vermischte sich mit dem grauen, kalten Nebel.
    Reinecke sagte zu Liss, bei der Überprüfung des Objekts Nummer eins auf seine hermetischen Eigenschaften hin seien Mängel aufgetreten, und Stahlgang setzte ihm, sein Asthma vergessend, mit heiserer, aufgeregter Stimme das Baukonzept der neuen Anlage auseinander.
    Bei aller scheinbaren Einfachheit der Konstruktion und trotz der kleinen Abmessungen bewirke eine gewöhnliche Wasserturbine doch die Konzentration gewaltiger Kräfte, Massen und Geschwindigkeiten, in ihren Windungen verwandle sich die geologische Kraft des Wassers in Arbeit.
    Nach dem Prinzip der Turbine funktioniere auch diese Anlage. Sie wandle Leben und die damit verbundene Energie in anorganische Materie um. In der Turbine dieses neuen Typs müsse die Energie der Psyche, der Nerven, des Atems, des Herzens, der Muskeln und die blutbildende Energie eines Körpers bezwungen werden. Die neue Anlage sei eine Kombination aus Turbine, Schlachthof und Müllverbrennungsanlage, für die eine möglichst einfache architektonische Lösung habe gefunden werden müssen.
    »Unser teurer Führer«, sagte Stahlgang, »vergisst bekanntlich bei der Besichtigung selbst der prosaischsten Industrieobjekte nie die Architektur.«
    Er senkte die Stimme so weit, dass ihn nur Liss hören konnte, und fuhr fort: »Sie wissen ja, die Abweichung ins Mystische bei der architektonischen Gestaltung der Lager bei Warschau hat dem Reichsführer große Unannehmlichkeiten bereitet. Das alles war hier zu berücksichtigen.«
    Der Innenausbau der Betonkammer entsprach der industriellen Epoche der großen Massen und Geschwindigkeiten.
    Das Leben, das in die zur Gaskammer führenden Kanäle einmündete, konnte und durfte – dem Wasser gleich – nach dieser Konstruktion nicht mehr stehenbleiben oder zurückfließen. Die Geschwindigkeit seiner Bewegung durch den Betonkorridor wurde von Formeln bestimmt, die der Stokes’schen Formel von der Bewegung der Flüssigkeit in einem Rohr ähnelten – sie hängt von der Dichte, dem spezifischen Gewicht, der Viskosität der Reibung und der Temperatur ab. Die Deckenlampen waren versenkt und durch dickes Milchglas geschützt.
    Je weiter man kam, desto greller wurde das Licht, bis es unmittelbar vor der polierten Stahltür, die den Zugang zur Kammer versperrte, eine eiskalte, gleißende Helligkeit annahm.
    An der Tür herrschte jene typische Unruhe, die sich vor der Inbetriebnahme einer neuen Anlage gewöhnlich der verantwortlichen Monteure und Konstrukteure bemächtigt. Hilfsarbeiter spritzten mit Schläuchen den Boden ab; ein älterer Chemiker im weißen Kittel war damit beschäftigt, den Druck an der geschlossenen Tür zu messen. Reinecke befahl, die Tür zur Kammer zu öffnen. Beim Betreten des großen Raumes mit dem tief herabgezogenen Betonhimmel nahmen einige Ingenieure den Hut ab. Der Boden der Kammer bestand aus schweren, in Metallrahmen gefassten und dicht miteinander abschließenden beweglichen Platten. Auf einen Knopfdruck vom außerhalb der Kammer gelegenen Schaltpult aus stellten sich die Bodenplatten senkrecht, und der Inhalt der Kammer entleerte sich in einen unterirdischen Raum. Dort entfernten

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