Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Leben und Schicksal

Leben und Schicksal

Titel: Leben und Schicksal Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Wassili Grossman
Vom Netzwerk:
Stomatologen alle prothetischen Edelmetallteile aus der organischen Materie, danach trat ein Förderband in Aktion, das zu den Verbrennungsöfen führte, wo die ihrer Denk- und Wahrnehmungsfähigkeit beraubte organische Materie unter Einwirkung von Wärmeenergie weiter zersetzt, das heißt in Phosphordünger, Kalk, Asche, Ammoniak sowie Kohlensäure- und Schwefelgas umgewandelt wurde.
    Ein Verbindungsoffizier trat an Liss heran und übergab ihm ein Telegramm. Alle sahen, dass sich das Gesicht des Sturmbannführers beim Lesen verdüsterte.
    Das Telegramm informierte Liss darüber, dass Obersturmbannführer Eichmann sich mit ihm noch in derselben Nacht auf der Baustelle treffen werde. Er komme mit dem Wagen über die Münchner Autobahn und sei bereits unterwegs.
    Keine Reise nach Berlin! Und er hatte damit gerechnet, die kommende Nacht in seinem Landhaus zu verbringen, wo seine kranke Frau sehnsüchtig auf ihn wartete. Vor dem Schlafengehen hätte er in seinem Sessel gesessen, die weichen Pantoffeln an den Füßen, und hätte in der Wärme und Behaglichkeit seines Heims für ein, zwei Stunden die Härte der Zeit vergessen. Wie gemütlich wäre es gewesen, nachts im Bett dem fernen Grollen der Berliner Flakgeschütze zu lauschen.
    Abends, nach seinem Bericht in der Prinz-Albert-Straße und vor seiner Abreise aufs Land, wenn alles still war und man keine Luftangriffe zu befürchten hatte, hätte er die junge Referentin des philosophischen Instituts besucht, die allein wusste, wie hart das Leben für ihn war, welche innere Unruhe ihn quälte. Eigens für diese Begegnung hatte er in seinem Gepäck eine Flasche Cognac und eine Schachtel Pralinen. Aus der Traum!
    Ingenieure, Chemiker, Architekten, alle schauten ihn an – welche Nachricht mochte den Inspektor des RSHA zum Stirnrunzeln gebracht haben? Wer von ihnen wusste es wohl?
    Für Augenblicke kam es ihnen so vor, als beuge sich die Kammer nicht mehr dem Willen ihrer Erbauer, als beginne sie sich selbstständig zu machen, ihren eigenen Betonwillen und ihre Betongefräßigkeit zu entwickeln, Gift auszuatmen, mit ihren stählernen Türkiefern zu kauen und zu verdauen.
    Stahlgang blinzelte Reinecke zu und flüsterte: »Wahrscheinlich hat Liss die Mitteilung erhalten, dass der Gruppenführer seinen Bericht an Ort und Stelle entgegennehmen wird; ich habe das bereits heute früh erfahren; und jetzt ist sein Urlaub bei der Familie und wahrscheinlich auch ein Rendezvous mit irgendeiner netten Dame geplatzt.«
    30
    In der Nacht traf Liss mit Eichmann zusammen.
    Eichmann war fünfunddreißig Jahre alt. Handschuhe, Mütze und Schuhe – drei Gegenstände, die Poesie, Arroganz und Überlegenheit der deutschen Waffen verkörpern sollten – glichen denen des Reichsführers-SS Himmler.
    Liss kannte die Eichmanns schon aus der Zeit vor dem Krieg; sie waren aus derselben Stadt. Liss, der an der Berliner Universität studiert, dann bei einer Zeitung und später bei einer philosophischen Zeitschrift gearbeitet hatte, besuchte von Zeit zu Zeit seine Heimatstadt und erkundigte sich auch nach seinen Schulkameraden aus dem Gymnasium. Die einen waren von der gesellschaftlichen Woge nach oben gespült worden, bis die Woge und mit ihr der Erfolg verebbt war; die anderen waren danach zu Ruhm und materiellem Wohlstand gekommen. Der junge Eichmann aber hatte immer das gleiche einförmige, unbeachtete Dasein geführt. Die Waffen, die bei Verdun kämpften, der greifbar nah erscheinende Sieg, die Niederlage und die Inflation, der politische Kampf im Reichstag, der Wirbel, den linke und ultralinke Strömungen in der Malerei, im Theater und in der Musik verursachten, Aufstieg und Niedergang von Modeerscheinungen – nichts hatte an seinem einförmigen Leben etwas geändert.
    Er arbeitete als Angestellter einer Provinzfirma. Der Familie und den Bekannten schenkte er das übliche Maß an Beachtung beziehungsweise Missachtung; alle wichtigen Straßen des Lebens schienen ihm von einer lärmenden, gestikulierenden, feindseligen Masse verbaut. Überall traf er auf Menschen mit leuchtenden dunklen Augen, clever und versiert, die verächtlich auf ihn herabzulächeln und ihn von sich wegzustoßen schienen.
    In Berlin war es ihm nach seiner Gymnasialzeit nicht gelungen, eine Stelle zu finden. Büro- und Firmenchefs der hauptstädtischen Unternehmen hatten ihm bedauernd mitgeteilt, dass leider keine Stelle frei sei, und er hatte dann hintenherum erfahren, dass der Posten an irgendeinen Kümmerling von unklarer

Weitere Kostenlose Bücher