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Leben und Schicksal

Leben und Schicksal

Titel: Leben und Schicksal Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Wassili Grossman
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wesentlicher? Warum wurde sein großes wissenschaftliches Anliegen, seine ganze Freude, hier von kleinlichen, nebensächlichen Sorgen so verwässert?
    »Ljuda, mir ist so schwer ums Herz. Warum sagst du denn nichts? Du, Ljuda? Verstehst du mich denn nicht?«
    Ljudmila Nikolajewna schwieg. Sie war eingeschlafen.
    Er lachte leise auf; komisch war das, dass seine Dummheiten die eine Frau um den Schlaf brachten, die andere dagegen einschläferten. Er stellte sich das schmale Gesicht Marja Iwanownas vor und wiederholte in Gedanken die Worte, die er eben an seine Frau gerichtet hatte: »Verstehst du mich denn nicht? Du, Mascha?«
    »Zum Teufel, was für ein Blödsinn einem da in den Kopf kommt«, dachte er beim Einschlafen, und Blödsinn war es ja wirklich.
    Strum war handwerklich ungeschickt. Wenn zu Hause das elektrische Bügeleisen durchbrannte oder ein Kurzschluss das Licht ausgehen ließ, reparierte Ljudmila Nikolajewna den Schaden.
    In den ersten Ehejahren hatte Ljudmila Nikolajewna diese Ungeschicklichkeit Strums gerührt. Doch in letzter Zeit ging sie ihr zunehmend auf die Nerven, und einmal, als er den Wasserkessel leer aufs Feuer gestellt hatte, sagte sie wütend: »Du hast wirklich zwei linke Hände, du Trottel.«
    An diesen Ausspruch, der ihn tief verletzt und gekränkt hatte, musste er während der Montage der Apparatur im Institut häufig denken.
    Das Labor beherrschten in dieser Zeit Markow und Nosdrin. Sawostjanow fiel das als Erstem auf, und er sagte auf einer Produktionsberatung: »Es gibt keinen Gott neben Professor Markow und Nosdrin, seinem Propheten.«
    Markows gezierte Zurückhaltung war völlig verschwunden. Er begeisterte Strum stets aufs Neue durch seinen raschen, mutigen Verstand, der alle unerwartet auftauchenden Schwierigkeiten im Handumdrehen meisterte. Markow kam ihm vor wie ein Chirurg, der sein Skalpell zielsicher zwischen den Verflechtungen der Blutgefäße in den Nervenzentren ansetzt. Es war, als entstehe unter seinen Händen ein Wesen mit einem eigenen scharfen und wachen Verstand, ein neuer, nie da gewesener Metallorganismus mit Herz und Gefühl, der sich genauso freuen und genauso leiden konnte wie die Menschen, die ihn schufen.
    Markows unerschütterliche Gewissheit, dass seine Arbeit und die von ihm gebauten Instrumente mehr bedeuteten als die albernen Dinge, mit denen sich Buddha und Mohammed abgegeben hatten, oder die Bücher von Tolstoi und Dostojewski, hatte Strum immer wieder belustigt.
    Tolstoi hatte am Nutzen seiner großartigen schriftstellerischen Leistung gezweifelt! Das Genie war nicht überzeugt gewesen, dass das, was es tat, den Menschen nützte. Physiker dagegen zweifelten nie am Nutzen ihrer Sache. Auch Markow kannte keine Zweifel.
    Jetzt aber fand Strum Markows Selbstsicherheit überhaupt nicht komisch.
    Er sah gern zu, wenn Nosdrin mit Feile, Zange und Schraubenzieher umging oder konzentriert die einzelnen Leitungsstränge sortierte oder den Elektrikern half, die Versorgungsleitung zu der neuen Anlage zu verlegen.
    Überall lagen Kabelrollen und matt glänzende, bläuliche Bleiplatten. Auf einem Gusseisensockel stand mitten im Saal das aus dem Ural gelieferte Kernstück der Anlage mit runden und rechteckigen Bohrungen. Welch bedrückende, unheimliche Faszination doch von diesem rohen Metallklotz ausging, der für fantastisch feine Messungen von Materie bestimmt war.
    Vor tausend, zweitausend Jahren: Am Strand des Meeres bauen ein paar Männer ein Floß aus dicken Balken, die sie mit Stricken und Klammern aneinander befestigen. Auf dem Sandstrand stehen Winden, Hobelbänke, brodeln Teerkessel über Feuerstellen … Die Stunde des Auslaufens rückt näher. Abends kehren die Floßbauer in ihre Hütten zurück, genießen die behagliche häusliche Atmosphäre, die Wärme des Kohlebeckens und lauschen dem Gezänk und dem Lachen der Frauen. Von Zeit zu Zeit greifen sie in die häuslichen Streitereien ein, drohen den Kindern und beschimpfen die Nachbarn; nachts aber, im warmen Dunkel, hören sie das Meer rauschen, und dunkle Ahnungen erfüllen sie bei dem Gedanken an die bevorstehende Fahrt ins Ungewisse.
    Sokolow schwieg gewöhnlich, wenn er den Technikern zusah. Wenn Strum sich nach ihm umwandte, fing er einen ernsten, aufmerksamen Blick auf, und es schien, als habe sich zwischen ihnen nichts geändert.
    Strum wollte unbedingt mit Pjotr Lawrentjewitsch noch einmal reden. Es war schon alles seltsam. Diese kleinlichen Aufregungen um die Lebensmittelmarken und Gehälter,

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