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Leben und Schicksal

Leben und Schicksal

Titel: Leben und Schicksal Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Wassili Grossman
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Nationalität, Pole oder Italiener, vergeben worden war. Er hatte es an der Universität versucht, doch die dort herrschende Ungerechtigkeit hatte verhindert, dass er angenommen wurde. Er hatte erkennen müssen, dass die Prüfer beim Anblick seines gesunden runden Gesichts mit den blauen Augen, dem kurzen blonden Haar und der kurzen geraden Nase sogleich das Interesse an ihm verloren. Sie bevorzugten offenbar breitmäulige, dunkeläugige, rachitische Degeneraten. Nicht nur er war damals zurück in die Provinz gespült worden. Viele hatte dieses Schicksal ereilt. Den in Berlin herrschenden Menschenschlag traf man auf allen Ebenen der Gesellschaft, doch am stärksten war er in der kosmopolitischen Intelligenz vertreten, die, aller nationalen Züge bar, keinen Unterschied machte zwischen Deutschen und Italienern, Deutschen und Polen.
    Es war ein ganz besonderer Menschenschlag, eine fremde Rasse, die mit ihrem Verstand, ihrer Bildung und mit Gleichgültigkeit und Verachtung alle unterdrückte, die sich mit ihr messen wollten. Es war schrecklich, ständig dieser lebendigen und dabei nicht aggressiven geistigen Herausforderung ausgesetzt zu sein. Die Macht dieser Leute äußerte sich in ihren seltsamen Vorlieben und Gebräuchen; sie konnten ebenso modisch wie schlampig und unmodisch sein und brachten es fertig, eine extreme Tierliebe mit einer völlig städtischen Lebensweise zu vereinen. Ebenso charakteristisch war ihr abstraktes Denkvermögen, das sich mit einer Vorliebe für Primitives in Kunst und Alltag verband … Diese Leute trieben die deutsche Farben- und Stickstoffchemie voran, sie standen hinter der deutschen Strahlenforschung und der deutschen Edelstahlproduktion. Ihretwegen kamen ausländische Gelehrte und Künstler, Philosophen und Ingenieure ins Land. Dabei hatten gerade diese Leute am wenigsten Ähnlichkeit mit den Deutschen; sie trieben sich überall auf der Welt herum; auch ihr Freundeskreis war nicht deutsch und ihre deutsche Herkunft mehr als zweifelhaft.
    Wie sollte es da der kleine Angestellte einer Provinzfirma zu etwas bringen? Er konnte von Glück sagen, wenn er nicht hungerte.
    Jetzt dagegen verließ er sein Büro, nachdem er dem Safe Papiere anvertraut hatte, deren Inhalt außer ihm nur drei Männern auf der Welt bekannt war – Hitler, Himmler und Kaltenbrunner. Vor dem Haus wartete eine schwarze Limousine. Die Pförtner grüßten ehrerbietig, der Adjutant riss den Wagenschlag auf – der SS-Obersturmbannführer Eichmann fuhr ab. Der Chauffeur gab Vollgas, und der starke Gestapo-»Horch« raste an salutierenden städtischen Polizisten vorbei, die eilends die Ampeln auf Grün schalteten, und brauste durch die Berliner Straßen hinaus auf die Autobahn. Regen, Nebel, Signalleuchten, flache Kurven.
    In Smolewitschi stehen stille Häuschen inmitten von Gärten, auf den Trottoiren wächst Gras. Auf den Straßen im Berditschewer Stadtteil Jatki scharren schmutzige, mit roter und violetter Tinte gekennzeichnete Hühner im Staub. In Podol und in der Wassilkowskaja-Straße in Kiew sind in den hohen Häusern mit den dreckigen Fenstern die Treppenstufen von Millionen Kinderschuhen und Greisenpantoffeln ausgetreten.
    In Odessa trocknet im Hof neben gefleckten Platanenstämmen bunte Wäsche, Hemdchen und Unterhosen, dampfen über Kohlebecken Töpfe mit Kornelkirschmarmelade, schreien Neugeborene in ihren Wiegen; dunkelhäutig sind sie, obwohl sie die Sonne nie gesehen haben.
    In Warschau wohnen in einem schäbigen, engbrüstigen, sechsstöckigen Haus Näherinnen, Buchbinder, Hauslehrer, Sängerinnen aus der Nachtbar, Studenten und Uhrmacher.
    In Stalindorf wird abends in den Hütten das Feuer geschürt; der Wind weht vom Perekop herüber; es riecht nach Salz und warmem Staub; Kühe muhen, schütteln bedächtig ihre schweren Köpfe.
    In Budapest, Fastow, Wien, Melitopol und Amsterdam wohnen in Prunkvillen mit spiegelnden Fenstern, aber auch in von Fabrikqualm geschwärzten Häusern Menschen jüdischer Nation.
    Sie alle sind nun vereint durch den Lagerzaun, durch die Gaskammer, durch den Lehm des Panzerabwehrgrabens — Millionen Menschen verschiedenen Alters und Berufs, verschiedener Sprache, verschiedener Interessen, Glaubensfanatiker und fanatische Ungläubige, Arbeiter, Schmarotzer, Ärzte und Händler, Kluge und Dumme, Diebe, Idealisten und Zyniker. Sie alle erwartet der Tod.
    Der Gestapo-»Horch« raste und kurvte über die herbstlichen Straßen.
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    Sie trafen sich nachts. Eichmann ging gleich ins

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