Lebendig und begraben
an, dass er es nicht wusste. Und dass ihm gerade etwas widerfuhr, das er nur äußerst selten erlebte: eine Niederlage.
»Warten Sie«, sagte er mit belegter Stimme. »Ich habe doch noch etwas. Ein Foto.«
Ich sah ihn erwartungsvoll an.
»Der Mittelsmann konnte heimlich ein Foto des Auftragnehmers machen. Nur für alle Fälle.«
»Vom Gesicht?«
Er nickte. »Allerdings kein Name.«
»Her damit.«
»Aber das Gesicht des Mannes taucht in keiner der Datenbanken Ihrer Strafverfolgungsbehörden auf. Es wird nicht leicht sein, ihn zu finden.«
»Ich will das Foto«, wiederholte ich. »Und ich will noch etwas.«
Nawrozow schaute mich nur an.
»Ich will wissen, was Mercury wirklich ist.«
Er erzählte es mir.
Dreißig Minuten später, immer noch wie gelähmt von dem Schock, fand ich den Weg zur Straße und hielt ein Taxi an.
TEIL DREI
Wenn man die Wahrheit verschließt und im Boden vergräbt, wird sie nur wachsen und so viel explosive Kraft entwickeln, dass der Tag, an dem sie durchbricht, alles, was ihr im Wege steht, fortfegen wird.
Émile Zola
80. KAPITEL
Kurz vor sechs Uhr morgens landete die Frachtmaschine von FedEx in Boston.
Ich brauchte dringend etwas Schlaf.
Wollte ich auch nur die leiseste Chance haben, Alexa Marcus zu finden, brauchte mein Gehirn unbedingt eine Pause. Nur ein paar Stunden Schlaf, damit ich wieder klar denken konnte. Ich war an einem Punkt angelangt, an dem ich mir Koffein hätte spritzen können, ohne dass es mich wachhalten würde.
Als ich den Defender einparkte, klingelte mein Telefon.
Es war Tolja Wasilenko. »Wegen des Bildes, das Sie mir gerade geschickt haben«, sagte er. »Tut mir wirklich sehr leid für Sie. Das ist ein ziemlich übler Geselle.«
»Reden Sie!«
»Erinnern Sie sich an diese grässliche Ermordung der Familie in Connecticut, von der ich Ihnen erzählt habe?« Er betonte es immer noch falsch.
»War er derjenige, der überlebt hat? Der, der entkommen ist?«
»So wurde es mir berichtet.«
»Und sein Name?«
»Wir haben noch immer nicht über den Preis gesprochen.«
»Also, wie viel wollen Sie?«, fragte ich erschöpft.
»Es geht mir nicht ums Geld. Ich will … Nennen wir es einen Informationsaustausch.«
Er nannte mir seine Forderung und ich stimmte ohne Zögern sofort zu.
Dann sagte er: »Dragomir Wladimirowitsch Schukow.«
Ich wälzte den Namen in meinem Kopf hin und her und versuchte ihn mit dem Foto zusammenzukriegen, das mir Eugene, Romans Sicherheitschef, gemailt hatte: der brutal aussehende Mann mit dem rasierten Schädel und dem entschlossenen Gesichtsausdruck.
Dragomir,
übte ich in Gedanken.
Dragomir Schukow
. Ein brutal klingender Name, wenn man darüber nachdachte.
»Dragomir – ein ungewöhnlicher Name für einen Russen«, sagte ich.
»Seine Mutter ist eine Serbin.«
»Was haben Sie sonst noch über ihn?«
»Abgesehen von der Tatsache, dass er ein Psychopath ist und ein Monster? Und noch dazu extrem gerissen? Müssen Sie wirklich noch mehr über ihn wissen?«
»Details aus seiner Vergangenheit. Seine Kindheit, seine Familie.«
»Haben Sie jetzt vor, in ihrer Freizeit zum Psychoanalytiker zu werden?«
»So arbeite ich nun mal. Je mehr ich über das Privatleben einer Zielperson weiß, desto effektiver kann ich arbeiten.«
»Leider haben wir nur sehr wenig, Nicholas, abgesehenvon seinen Haftunterlagen, den Militärakten und ein paar Befragungen von Angehörigen und Zeugen.«
»Zeugen?«
»Sie glauben doch nicht, dass dieser Einbruch in Connecticut sein erster Mord war, oder? Als er in Tschetschenien bei den russischen Bodentruppen gedient hat, wurde er für seinen übermäßigen Eifer gemaßregelt.«
»Was für eine Art ›Eifer‹ war das?«
»Er war an einer
Zachistka,
einer ›Säuberungsaktion‹, in Grozny beteiligt und hat dort Dinge getan, über die nicht einmal seine Kommandanten reden wollten. Und die sind nicht gerade zartbesaitet. Folterungen. Ich kenne nur ein paar Geschichten. Er nahm drei tschetschenische Brüder gefangen und zerstückelte sie so gründlich, dass von ihnen am Ende nichts als ein Haufen Knochen und Knorpel übrig blieb.«
»Ist das der Grund, warum er ins Gefängnis gesteckt wurde?«
»Nein. Er wurde für eine Straftat eingelocht, die er begangen hat, nachdem er aus dem Krieg zurückgekehrt war.«
»Ein weiterer Mord vermutlich.«
»Nein, eigentlich nicht. Er wurde für ein Eigentumsdelikt zu fünf Jahren Gefängnis verurteilt. Er hatte bei einem dieser Öl-Pipeline-Projekte in Tomsk
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