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Lebendig und begraben

Lebendig und begraben

Titel: Lebendig und begraben Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Finder Joseph
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heruntergewirtschafteten Landadels, den Nachfahren der echten Bostoner; aber diese waren zum größten Teil verfallen. Die meisten der großen Anwesen hatten sich Hedgefond-Bosse und die Neo-Tycoons der Hightech-Branche unter den Nagel gerissen.
    Marshall Marcus war der reichste dieser Neureichen, aber längst nicht der Neueste. Er war als armer Junge auf der Blue Hill Avenue in Mattapan aufgewachsen, in der alten jüdischen Arbeitersiedlung. Offenbar hatte seinem Onkel ein Spielcasino im Westen gehört, und Marshall hatte schon als Kind gelernt, wie man Black Jack spielte. Ebenso hatte er sehr früh begriffen, dass der Vorteil immer auf Seiten der Bank lag, also hatte er sich alle möglichen Arten von Kartenzähltricks ausgedacht. Er bekam ein volles Stipendium am MIT, wo er sich die Computersprache Fortran auf einem der alten, riesigen IBM-704-Rechner beibrachte, die so groß waren wie ein Bauernhof. Er ersann einen ausgesprochen clevereren Weg, Black Iron, wie sie diese ersten Computer nannten, dazu zu benutzen, seine Chancen beim Black Jack zu erhöhen.
    Der Legende nach gewann er an einem einzigen Wochenende zehntausend Dollar in Reno. Er brauchte nicht lange, um zu begreifen, dass er dieses Geld am besten waschen konnte, indem er es auf den Finanzmärkten einsetzte. Also eröffnete er mit seinem ersten verdienten Geld ein Börsenmaklerkonto und war bereits Millionär, als er seinen Abschluss machte. Er hatte zu der Zeit eine computergesteuerte Investmentmethode entwickelt, die auf komplizierten Rechenformeln basierte; dabei ging es um Optionsgeschäfte und Derivatehandel. Schließlich hatte er diesen gut gehütetenAlgorithmus perfektioniert und damit einen Hedgefond gegründet, der ihn zu einem mehrfachen Milliardär machte.
    Meine Mutter hatte jahrelang für ihn gearbeitet und einmal versucht, mir den Algorithmus zu erklären, aber ich hatte ihn nicht verstanden. Ich war nie gut in Mathematik. Mich interessierte an Marshall Marcus nur, dass er gut zu meiner Mutter war, als es uns wirklich dreckig ging.
    Soll heißen, als wir nach Boston zogen, nachdem mein Vater verschwunden war – er hatte einen Tipp gekriegt, dass er verhaftet werden sollte, und hatte es vorgezogen, sich aus dem Staub zu machen –, besaßen wir weder Geld noch ein Dach über dem Kopf; wir hatten gar nichts. Wir mussten uns zu meiner Großmutter durchschlagen, Moms Mutter, die in Malden wohnte, außerhalb von Boston. Mom versuchte verzweifelt, Geld zu verdienen, und nahm einen Job als Büroleiterin bei Marshall Marcus an, einem Freund meines Vaters. Sie schuftete etliche Jahre für ihn und wurde schließlich seine persönliche Assistentin. Sie arbeitete gern für Marcus, und er behandelte sie immer gut. Außerdem bezahlte er ihr sehr viel Geld. Selbst nachdem sie in Rente gegangen war, schickte er ihr außerordentlich großzügige Weihnachtsgeschenke.
    Obwohl er ein Freund meines Vaters gewesen war, mochte ich ihn sehr. Man konnte einfach nicht anders. Er war ausgesprochen umgänglich, freundlich und komisch, dazu ein Mann mit einem gesunden Appetit. Marcus liebte gutes Essen, guten Wein, gute Zigarren und Frauen und all das bis zum Exzess. Irgendetwas an diesem Kerl war einfach ungeheuer anziehend.
    Fast alles an Marcus’ Haus sah aus wie bei meinem letzten Besuch: der Tennisplatz, der Swimmingpool in Olympia-Größe, von dem aus man auf den Ozean blicken konnte, und die Garage weiter unten am Hügel. Das einzig Neue warein Wachhäuschen, das wirklich brandneu wirkte. Ein Schlagbaum versperrte die schmale Straße. Ein Wachmann trat aus dem Häuschen, ließ sich meinen Namen nennen und wollte sogar meinen Führerschein sehen.
    Das überraschte mich. Marcus hatte trotz seines enormen Reichtums nie wie ein Gefangener gelebt, wie viele sehr reiche Leute das tun, in abgeschirmten Gemeinschaften, hinter hohen Zäunen und umringt von Leibwächtern. Ganz offensichtlich hatte sich etwas Entscheidendes verändert.
    Nachdem der Wachmann mich durchgelassen hatte, fuhr ich die Zufahrt hinauf und parkte direkt vor dem Haus. Als ich ausstieg, sah ich mich um und bemerkte etliche Überwachungskameras, die unauffällig am Haus und überall im Gelände montiert waren.
    Ich überquerte die breite Veranda und läutete. Nach einer Minute öffnete sich die Haustür, und Marshall Marcus kam heraus. Er streckte seine kurzen Arme aus, sein Gesicht leuchtete.
    »Nickeleh!«, sagte er. Das war sein üblicher Kosename für mich. Er stieß die Fliegengittertür auf

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