Lebendig und begraben
Formular unterschreiben musste.«
»Hat sie eine Freundin getroffen? Oder einen Freund? Oder sonst jemand?«
»Ich glaube, sie hat eine Freundin getroffen. Bis jetzt geht Alexa nicht mit Jungs aus. Gott sei Dank. Noch nicht, meine ich. Jedenfalls, soweit ich weiß.«
Ich fragte mich, wie viel Alexa ihrem Vater wohl über ihr Privatleben verriet. Vermutlich nicht sonderlich viel. »Hat sie gesagt, wohin sie wollte?«
»Sie hat Belinda nur gesagt, dass sie sich mit jemandem treffen wollte.«
»Aber nicht mit einem Kerl.«
»Nein, kein Mann.« Er klang verärgert. »Freunde. Oder eine Freundin. Sie hat Belinda …« Marcus schüttelte den Kopf, und seine Wangen zitterten. Dann legte er eine Hand auf seine Augen, drückte sie fest und seufzte erneut tief auf.
»Wo ist Belinda?«, fragte ich nach ein paar Sekunden leise.
»Oben. Sie hat sich hingelegt«, erwiderte Marcus, der immer noch mit seiner fleischigen Hand seine Augen bedeckte. »Es geht ihr nicht gut. Sie nimmt sich das wirklich sehr zu Herzen, Nick. Sie hat die ganze Nacht nicht geschlafen. Sie ist am Boden zerstört und gibt sich selbst die Schuld.«
»Woran?«
»Weil sie Alexa erlaubt hat auszugehen oder weil sie nicht genug Fragen gestellt hat, keine Ahnung. Aber es ist nichtBelindas Schuld. Es ist nicht leicht, Stiefmutter zu sein. Jedes Mal, wenn sie es versucht, du weißt schon, wenn sie Regeln aufstellen will, beißt Alexa ihr fast den Kopf ab. Sie nennt sie das ›Stiefmonster‹. Es ist einfach nicht fair. Belinda kümmert sich um Alexa, als wäre es ihre eigene Tochter, wirklich. Sie liebt das Mädchen.«
Ich nickte und wartete eine halbe Minute. »Sehr wahrscheinlich hast du sie schon auf ihrem Handy angerufen«, meinte ich dann.
»Mindestens eine Million Mal. Ich habe sogar deine Mom angerufen. Ich dachte, es wäre vielleicht spät geworden und Alexa hätte nicht mehr fahren und uns auch nicht anrufen wollen. Und sich deshalb entschlossen, die Nacht bei Frankie zu verbringen. Sie liebt Francine.« Das Apartment meiner Mutter war in Newton, was erheblich näher an Boston lag als Manchester-by-the-Sea.
»Hast du einen triftigen Grund, anzunehmen, dass ihr irgendetwas zugestoßen sein könnte?«, erkundigte ich mich.
»Selbstverständlich ist ihr irgendetwas zugestoßen. Sie würde nicht einfach weglaufen, ohne es irgendjemandem zu erzählen!«
»Marshall«, sagte ich, »ich mache dir keine Vorwürfe, dass du Angst hast, weil du nicht weißt, was mit ihr los ist. Aber vergiss nicht, dass sie nicht zum ersten Mal so eine Szene abliefern würde.«
»Das liegt alles hinter ihr«, antwortete er. »Alexa ist jetzt ein gutes Kind. Das andere ist längst Vergangenheit.«
»Vielleicht«, räumte ich ein. »Vielleicht aber auch nicht.«
7. KAPITEL
Vor einigen Jahren war Alexa auf dem Parkplatz des Einkaufszentrums Chestnut Hill entführt worden, direkt vor den Augen ihrer Mutter, Annelise, Marcus’ dritter Frau.
Man hatte ihr jedoch nichts angetan. Sie war herumgefahren worden, kreuz und quer, und ein paar Stunden später auf einem anderen Platz am gegenüberliegenden Ende der Stadt freigelassen worden. Sie behauptete steif und fest, man hätte sie nicht sexuell missbraucht, was eine Untersuchung durch einen Arzt dann auch bestätigte. Bedroht worden wäre sie ebenfalls nicht, hatte sie angegeben und erklärt, die Entführer hätten nicht einmal mit ihr gesprochen.
Also blieb die ganze Angelegenheit ein Mysterium. Hatten ihre Entführer Angst bekommen? Hatten sie ihre Meinung geändert? So etwas kam vor. Es war allgemein bekannt, dass Marcus sehr reich war; vielleicht war es ein missglückter Entführungsversuch gewesen, um Lösegeld zu erpressen. Das war jedenfalls meine Vermutung. Dann jedoch verließ Alexas Mutter Annelise ihren Mann. Sie sagte Marshall, dass sie es nicht ertragen könnte, weiter mit ihm zu leben. Möglicherweise hatte die Entführung ihrer Tochter diese Erkenntnis ausgelöst, nämlich wie angreifbar sie als Ehefrau eines so reichen Mannes wie Marcus war.
Aber wer weiß schon, was der wirkliche Grund gewesen ist. Jedenfalls ist sie letztes Jahr an Brustkrebs gestorben, also konnte man sie nicht mehr fragen. Alexa war danach jedoch wie ausgewechselt, und sie war schon vorher kein besonders einfaches, ausgeglichenes Kind gewesen. Jetzt wurde sie noch rebellischer, rauchte in der Schule, kam zu spät nach Hause und tat alles, was sie nur konnte, um in Schwierigkeiten zu geraten.
Eines Tages also, einige Monate nach diesem
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