Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Lebens-Mittel

Lebens-Mittel

Titel: Lebens-Mittel Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Michael Pollan
Vom Netzwerk:
gesamte Lipid-Hypothese auseinandergenommen und gezeigt, dass sie von Anfang an wissenschaftlich kaum abgesichert war.
    In der Tat. Schon 1976 gab es viele Gründe, an der Lipid-Hypothese zu zweifeln. Einige davon waren – allerdings überzeugende – Indizien. In den Jahrzehnten des 20. Jahrhunderts zum Beispiel, in denen in Amerika die Rate von Herzkrankheiten anstieg, aßen die Amerikaner weniger tierische Fette (in Form von Schweineschmalz und Rindertalg). Anstelle dieser Fette konsumierten sie wesentlich mehr Pflanzenöle, vor allem in Form von Margarine, die 1957 zum ersten Mal häufiger verkauft wurde als Butter. Zwischen dem Ende des 2. Weltkriegs und 1976 (dem Jahr von McGoverns Anhörungen) fiel der Pro-Kopf-Verbrauch an tierischen Fetten jedweder Provenienz von vierundachtzig auf einundsiebzig Pfund, während der Verbrauch an Samenölen sich nahezu verdoppelte. Die Amerikaner schienen sich auf eine »vernünftige Ernährung« zuzubewegen und hatten dadurch paradoxerweise nicht weniger Herzinfarkte, sondern mehr. 8
    Auch der jähe Rückgang an Herzkrankheiten während des 2. Weltkriegs könnte leicht anderen Faktoren zugeschrieben werden als dem Mangel an Fleisch, Butter und Eiern. Während des Krieges waren nicht nur die tierischen Proteine, sondern auch Zucker und Benzin streng rationiert. Die Amerikaner aßen generell weniger, auch weniger raffinierte Kohlenhydrate; allerdings aßen sie mehr Fisch. Und sie bewegten sich mehr, denn dank der Benzinrationierung war mit dem ungehinderten Herumfahren Schluss.
    Die Lipid-Hypothese ließ sich davon nicht abschrecken. In den 1950er und 1960er Jahren hatten Forscher Populationen in anderen Ländern studiert, die eine wesentlich niedrigere Herzkrankheitenrate hatten, was mit einer geringeren Aufnahme an gesättigtem Fett erklärt wurde. Dass diese Tatsache genauso leicht durch andere Faktoren erklärt werden konnte – weniger Kalorien insgesamt? Weniger raffinierte Kohlenhydrate? Mehr Bewegung? Mehr Obst, Gemüse, Fisch? -, focht den sich verstärkenden Konsens, das Fett müsse der Schlüsselfaktor sein, nicht an.
    Der Konsens hing von zwei mehrdeutigen Zusammenhängen ab, die in den frühen Sechzigern gut belegt waren: dem Zusammenhang zwischen einem hohen Cholesterinspiegel im Blut und der Wahrscheinlichkeit für Herzkrankheiten, und dem Zusammenhang zwischen gesättigtem Fett in der Nahrung und dem Cholesterinspiegel im Blut. Beide Zusammenhänge haben sich bestätigt, aber daraus folgt nicht zwangsläufig, dass gesättigte Fette zu der Herzkrankheit führen; um diese Schlussfolgerung ziehen zu können, müsste man auch beweisen, dass das Serumcholesterin die Ursache der Herzkrankheit ist, und nicht etwa nur ein Symptom für sie. Und obwohl die Beweise für einen Zusammenhang zwischen Cholesterin in der Nahrung und Cholesterin im Blut immer dürftig waren, hat die Überzeugung sich gehalten, Ersteres würde zu Letzterem beitragen, vielleicht weil sie intuitiv so eingängig erscheint – und vielleicht auch, weil sie von den Margarineherstellern so kräftig gefördert wurde.
    Trotz dieser Lücken war es für McGoverns Ausschuss offenbar ein einfacher, kurzer Schritt, die Verbindungen zu ziehen und zu folgern, der Verzehr von Fleisch und Milchprodukten (als wichtigen Quellen für gesättigtes Fett und Cholesterin) würde zu Herzkrankheiten beitragen. Schließlich hatte die American Heart Association bereits den gleichen Kurzschluss begangen und seit 1961 eine vernünftige, fett- und cholesterinarme Ernährung gepredigt. Trotzdem war dem Ausschuss bekannt, dass die Forschungen, auf die er seine Empfehlungen stützte, kontrovers diskutiert wurden. Zum Beispiel hatte er von der American Medical Association einen sehr deutlich formulierten Brief erhalten, in dem diese ihre abweichende Meinung äußerte: »Ein radikaler langfristiger Ernährungswechsel, wie er durch die Annahme des vorgeschlagenen nationalen Ziels stattfinden würde, könnte nachteilige Folgen haben.«
    Trotzdem wurde das Ziel verfolgt. Noch nie zuvor hatte die Regierung sich daran gemacht, die Ernährung eines ganzen Volkes zu ändern. In der Vergangenheit hatten Ernährungsstrategien sich auf einzelne Bevölkerungssegmente konzentriert, bei denen das Risiko für bestimmte Mangelkrankheiten bestand. Aber wie Taubes dokumentiert, war der Ausschuss der Meinung, auch wenn nicht alle Angaben hieb- und stichfest seien, würde es den Amerikanern wohl nicht schaden, wenn sie weniger Fett essen würden.

Weitere Kostenlose Bücher