Lebens-Mittel
Anlässlich der Pressekonferenz zur Präsentation der Ernährungsziele formulierte der Ernährungswissenschaftler Mark Hegsted von der Harvard School of Public Health, der an ihrer Ausarbeitung mitgewirkt hatte, es so: »Die eigentliche Frage ist nicht, warum wir unsere Ernährung ändern sollten, sondern, warum wir sie nicht ändern sollten.«
Zumindest eine gute Antwort auf diese Frage wurde offenbar übersehen. Vielleicht weil Fett 1977 einen so schlechten Ruf hatte, haben Dr. Hegstedt und seine Kollegen sich offenbar nicht mit der Überlegung aufgehalten, wie eine Änderung der Höhe oder des Verhältnisses der verschiedenen Fette und die Markteinführung eines biologisch neuartigen Fetts wie des Transfetts die menschliche Physiologie beeinflussen könnte. Es lohnt sich, daran zu erinnern, dass das menschliche Gehirn zu rund 60 Prozent aus Fett besteht; jedes einzelne Neuron steckt in einer Schutzschicht aus diesem Material. Fette bilden die Struktur unserer Zellwände; das Verhältnis der verschiedenen Fettarten zueinander beeinflusst die Durchlässigkeit der Zellen für alles Mögliche, von der Glucose und den Hormonen bis zu Mikroben und Toxinen. Ohne ausreichende Mengen an Fett im Essen können die fettlöslichen Vitamine A und E die Darmwände nicht passieren. All das war 1977 bekannt. Aber der hippokratische Eid – »Vor allem schade nicht« – gilt offenbar nicht für offizielle Ernährungsempfehlungen, die zumindest 1977 einem ganz anderen Grundsatz folgten: »Warum nicht?«
Für unsere Gesundheit und unser Wohlbefinden stand also viel auf dem Spiel, als die Regierung eine massive Änderung der amerikanischen Ernährungsgewohnheiten befürwortete. Nun hätte es natürlich sein können, dass die gesamte Bevölkerung beschlossen hätte, die Ernährungsziele zu ignorieren und weiterzuessen wie bisher. Aber das passierte nicht. Stattdessen wurden die Ziele ernst genommen, und eines der ehrgeizigeren Ernährungsexperimente der amerikanischen Geschichte lief vom Stapel. Die Autorität über das Menü, die früher überwiegend bei der Tradition und der Gewohnheit (und Muttern) gelegen hatte, verlagerte sich im Januar 1977 beträchtlich: Die Kultur gab einen Großteil ihres Einflusses darüber, wie wir essen und was wir über das Essen denken, an die Wissenschaft ab. Beziehungsweise an das, was in Fragen der Ernährung als Wissenschaft gilt: an den Nutritionismus, wie es richtiger heißen sollte. »Voreilig oder nicht«, schrieb Jane Brody 1981 in der New York Times , »die Ernährungsziele beginnen, die Ernährungsphilosophie und sogar die Essgewohnheiten der meisten Amerikaner umzuformen.«
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Richtig essen, dicker werden
Im Kielwasser der neuen Richtlinien haben wir unsere Essgewohnheiten tatsächlich geändert und uns daran gemacht, die schlechten Fette an der Spitze der Lebensmittelpyramide durch die vielen guten Kohlenhydrate an ihrer Basis zu ersetzen. Das gesamte industrielle Lebensmittelangebot wurde so umgebaut, dass es die neue Ernährungsweisheit widerspiegelte, und bescherte uns fettarmes Schweinefleisch, fettarme Plätzchen und so viel fettarme Nudeln und fructosereichen (aber fettarmen!) Maissirup, wie wir essen konnten. Was sich als ziemlich viel herausstellte. Merkwürdigerweise wurden die Amerikaner mit ihrer neuen fettarmen Ernährung richtig fett – und viele leiten die gegenwärtige Fettleibigkeits- und Diabetes-Epidemie von den späten Siebzigern her, als die Amerikaner anfingen, sich mit Kohlenhydraten vollzustopfen, offenbar als eine Möglichkeit, das schlechte Fett zu umgehen.
Aber die Geschichte ist ein bisschen komplizierter. Denn die Amerikaner verschoben nach 1977 zwar das Gleichgewicht in ihrer Ernährung von den Fetten zu den Kohlenhydraten, sodass prozentual der Fettanteil an den Gesamtkalorien zurückging (von 42 Prozent 1977 auf 34 Prozent 1995). In Wirklichkeit jedoch haben wir unseren Gesamtfettverzehr nie eingeschränkt; wir haben nur von anderen Sachen mehr gegessen. Wir haben uns weniger gesättigte Fette einverleibt und sie wie empfohlen durch mehrfach ungesättigte Fette und Transfette ersetzt. Der Fleischkonsum blieb tatsächlich konstant, obwohl wir, wiederum wie empfohlen, von rotem Fleisch zu weißem wechselten, damit weniger gesättigte Fette im Blut landeten. Im Grunde haben wir uns einen Klacks mehr Kohlenhydrate auf den Teller geladen, sodass das (jetzt hautlose weiße) Stück tierisches Protein, das weiterhin in der Mitte thronte, versteckt, aber
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