Lebens-Mittel
Ballaststoffe, die normalerweise für eine langsame Freisetzung der enthaltenen Zucker sorgen, sind entfernt worden. Je feiner das Mehl gemahlen wird, desto mehr Oberfläche kommt mit den Verdauungsenzymen in Kontakt, und desto schneller wird die Stärke in Glucose umgewandelt. Ein großer Teil der modernen, industriell erzeugten Nahrung kann als Erweiterung und Intensivierung dieses Verfahrens betrachtet werden, denn die Lebensmittelverarbeiter finden Wege, die Glucose – den bevorzugten Brennstoff des Gehirns – immer schneller und effizienter zur Verfügung zu stellen. Manchmal ist das der einzige Zweck der Bearbeitung, etwa wenn Mais zu Maissirup raffiniert wird; es kann aber auch das unselige Nebenprodukt sein, wenn Lebensmittel aus anderen Gründen weiterverarbeitet werden.
So gesehen ging es beim Raffinieren intakter Lebensmittel historisch immer darum, sie nicht nur haltbarer und transportfähiger zu machen, sondern auch ihre Energie zu verdichten und sie schneller verfügbar zu machen. Dieser Beschleunigungsprozess machte einen großen Sprung nach vorne, als um 1870 in Europa zum Mahlen von Getreide Walzen (aus Eisen, Stahl oder Porzellan) eingeführt wurden. Diese neue Technologie, die um 1880 überall in Europa und Amerika das Mahlen mit Stein ersetzt hatte, kennzeichnet vielleicht mehr als jede andere Einzelentwicklung den Beginn der Industrialisierung unserer Nahrung – sie reduzierte sie auf ihre chemische Substanz und beschleunigte ihre Resorption. Auszugsmehl ist das erste Fastfood.
Vor der Walzenmahl-Revolution wurde Weizen zwischen zwei großen Steinrädern zerquetscht – ein Verfahren, bei dem das Mehl nie richtig weiß wurde. Denn das Zermahlen mit dem Stein entfernte zwar die Schale vom Weizenkorn (und damit den größten Teil der Ballaststoffe), nicht aber den Keimling, den Embryo sozusagen, der nährstoffreiche flüchtige Öle enthält. Die Mühlsteine zerdrückten den Keimling lediglich und setzten das Öl frei. Das gab dem Mehl eine gelblich graue Färbung (gelb wegen des enthaltenen Carotins) und verkürzte seine Haltbarkeit, denn sobald das Öl mit Luft in Kontakt kam, oxidierte es – es wurde ranzig. Das war das, was die Leute sehen und riechen konnten, und es gefiel ihnen nicht. Allerdings konnten ihre Sinne ihnen nicht sagen, dass der Keimling einige der wertvollsten Nährstoffe zu dem Mehl beisteuerte, darunter viel Protein, Folsäure und andere B-Vitamine, Carotine und andere Antioxidanzien und Omega-3-Fettsäuren, die besonders leicht ranzig werden.
Das Aufkommen der Walzen, die es ermöglichten, den Keimling zu entfernen und dann das verbliebene Endosperm (den großen Batzen Stärke und Protein in einem Samen) zu mahlen, löste das Haltbarkeits- und Farbproblem besonders gut. Jetzt konnte sich fast jeder schneeweißes Mehl leisten, das monatelang haltbar war. Jetzt brauchte nicht mehr jede Stadt ihre eigene Mühle, denn das Mehl konnte nun über große Entfernungen transportiert werden. Und es konnte das ganze Jahr über von großen Betrieben in großen Städten gemahlen werden: Schwergängige Steinmühlen, die im Allgemeinen auf Wasserkraft angewiesen waren, arbeiteten überwiegend da, wo ein Wasserlauf war, und auch nur dann, wenn der genug Wasser führte; die neuen Walzen jedoch konnten mit Dampfmaschinen jederzeit und überall betrieben werden. So wurde eines der wichtigsten Grundnahrungsmittel der westlichen Ernährung örtlich und zeitlich aus seiner Verankerung gelöst und eher wegen seines Images als wegen seines Nährwerts vermarktet. Insofern war Auszugsmehl ein modernes industrielles Nahrungsmittel – eines der ersten.
Problematisch war nur, dass dieses herrliche weiße Pulver keinen Nährwert hatte oder fast keinen. Das Gleiche galt nun auch für Maismehl und geschälten Reis; das Verfahren, ihn zu polieren, das heißt, die nährstoffreichsten Teile zu entfernen, wurde etwa zur selben Zeit perfektioniert. Überall da, wo diese Raffinade-Technologien allgemein gebräuchlich wurden, waren bald verheerende Pellagra- und Beriberi-Epidemien die Folge. Beide Krankheiten werden durch ein Defizit an B-Vitaminen verursacht, die der Keimling zur Ernährung beigesteuert hatte. Dass dem Brot plötzlich verschiedene andere Mikronährstoffe sowie Omega-3-Fettsäuren fehlten, ging wahrscheinlich aber auch zu Lasten der generellen Volksgesundheit, vor allem bei der armen Stadtbevölkerung Europas, die fast nichts anderes aß als Brot.
Als in den 1930er Jahren die Vitamine
Weitere Kostenlose Bücher