Lebens-Mittel
entdeckt wurden, begriffen die Wissenschaftler, was passiert war, und die Müller fingen an, das raffinierte Getreide mit B-Vitaminen aufzupeppen. Das konnte die offensichtlichsten Mangelkrankheiten abstellen. In jüngerer Vergangenheit erkannten die Wissenschaftler, dass vielen von uns auch die Folsäure im Essen fehlte, und 1996 wiesen die US-Gesundheitsbehörden die Mühlen an, dem Mehl auch Folsäure zuzusetzen. Aber es dauerte noch ein bisschen, bis der Wissenschaft dämmerte, dass diese – wie ein Ernährungswissenschaftler sagte – Zufuhrstrategie nach »Wunderbrot« 20 -Art vielleicht doch nicht alle Probleme lösen würde, die durch das Raffinieren des Getreides entstanden waren. Mangelkrankheiten lassen sich sehr viel einfacher aufspüren und kurieren (der Nutritionismus bezieht sein Prestige nicht zuletzt aus den medizinischen Erfolgen, die er bei ihrer Behandlung erzielte) als chronische Krankheiten; wie sich herausstellt, spielen bei mehreren von ihnen – Diabetes, Herzkrankheiten und manchen Krebsarten – die raffinierten Kohlenhydrate eine Rolle.
Die Geschichte des raffinierten Getreides ist ein schönes Gleichnis für die Grenzen der reduktionistischen Wissenschaft bei etwas so Komplexem wie der Nahrung. Ernährungswissenschaftler wissen seit Jahren, dass eine Kost mit viel vollwertigem Getreide das Risiko für Diabetes, Herzkrankheiten und Krebs verringert. (Das scheint auch dann zu stimmen, wenn man berücksichtigt, dass Leute, die viel Vollwertgetreide essen, heutzutage wahrscheinlich auch in anderer Hinsicht gesünder leben.) Nun haben die verschiedenen Ernährungswissenschaftler die Vorteile des vollen Korns jeweils unterschiedlichen Faktoren zugeschrieben: den Ballaststoffen in der Kleie, der Folsäure und anderen B-Vitaminen im Keimling oder den Antioxidanzien oder den diversen Mineralstoffen. 2003 veröffentlichte das American Journal of Clinical Nutrition 21 eine ungewöhnlich unreduktionistische Studie, die zeigte, dass keiner dieser Nährstoffe für sich allein die Vorteile von Lebensmitteln aus vollwertigen Getreiden erklären kann: Die typisch reduktionistische Analyse isolierter Nährstoffe konnte den besseren Gesundheitszustand der Vollkornesser nicht erklären.
Für diese Studie sahen die Epidemiologen David R. Jacobs und Lyn M. Steffen von der University of Minnesota die relevante Forschung durch und fanden eine ganze Reihe von Belegen dafür, dass eine Ernährung mit viel vollwertigem Getreide die Gesamtsterblichkeit verringerte. Überraschend war jedoch, dass sie auch dann einen gesundheitlichen Zusatznutzen des Verzehrs dieser Getreide fanden, wenn in der Ernährung der Kontrollgruppe die Spiegel an Ballaststoffen, Vitamin E, Folsäure, Phytinsäure, Eisen, Zink, Magnesium und Mangan (das heißt all der guten Dinge, von denen wir wissen, dass sie im vollen Korn enthalten sind) angeglichen wurden; dieser Zusatznutzen ließ sich weder einem einzelnen Nährstoff noch den Nährstoffen in ihrer Gesamtheit zuschreiben. Das heißt: Probanden, die gleiche Mengen dieser Nährstoffe aus anderen Quellen erhielten, waren nicht so gesund wie die Vollkornesser. »Diese Analyse deutet darauf hin, dass etwas anderes im vollen Korn vor dem Tod schützt.« Ein bisschen vage, aber vielsagend kamen die Autoren zu dem Schluss, dass »die verschiedenen Getreide und ihre Bestandteile synergistisch wirken«, und regten an, ihre Kollegen sollten ihr Augenmerk auf das Konzept der »Nahrungssynergie« lenken. Das unterstützt eine nach nutritionistischen Maßstäben revolutionäre Idee: dass ein ganzes Lebensmittel mehr sein könnte als die Summe seiner Nährstoffkomponenten.
Ich brauche nicht zu sagen, dass die Nahrungsmittelindustrie den Vorschlag nicht begeistert aufgegriffen hat, und in absehbarer Zukunft wird sich das wohl auch nicht ändern. Derzeit bringt Coca-Cola vitamingestärkte Erfrischungsgetränke auf den Markt und weitet damit die Wunderbrot-Strategie der Nahrungsergänzung auf Junkfood in seiner reinsten Form aus. (Wunder-Cola?) Das große Geld ist immer mit der Weiterverarbeitung von Nahrung gemacht worden, nicht mit ihrem Verkauf als Ganzes, und die Investition der Industrie in den reduktionistischen Ernährungsansatz ist wahrscheinlich eine sichere Geldanlage. Denn in uns ist etwas, das raffinierte Kohlenhydrate liebt, und dieses Etwas ist das menschliche Gehirn. Es giert geradezu nach Kohlenhydraten, die auf ihren Energiegehalt reduziert sind, das heißt auf reine Glucose. Sobald
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