Lebens-Mittel
die Industrie herausgefunden hatte, wie sie Gräsersamen in das chemische Äquivalent von Zucker umwandeln konnte, gab es wahrscheinlich kein Zurück mehr.
Der Zucker, das raffinierte Kohlenhydrat schlechthin, begann etwa zur gleichen Zeit wie das raffinierte Mehl, den Markt und den menschlichen Stoffwechsel zu überfluten. 1874 hob England seine Zölle auf Importzucker auf, der Preis fiel um die Hälfte, und Ende des 19. Jahrhunderts stammte ein Sechstel der Gesamtkalorienaufnahme der Engländer von Zucker, der Rest vorwiegend von raffiniertem Mehl.
Nachdem billiger reiner Zucker allgemein verfügbar war, musste der menschliche Stoffwechsel sich nicht nur mit einem kontinuierlichen Glucosezustrom herumschlagen, sondern auch mit mehr Fructose, als ihm je zuvor begegnet war, denn Zucker – Saccharose – besteht zur Hälfte aus Fructose. 22 (Der Pro-Kopf-Verbrauch an Fructose ist in den letzten dreißig Jahren um 25 Prozent gestiegen.) In der Natur ist Fructose selten und kostbar; normalerweise findet man sie saisonal in reifem Obst, wo sie in ein komplettes Lebensmittel mit vielen Ballaststoffen (die die Fructoseresorption verlangsamen) und wertvollen Mikronährstoffen eingebettet ist. Es ist kein Wunder, dass die natürliche Selektion uns so verdrahtet hat, dass wir Süßes lieben: So, wie Zucker normalerweise in der Natur vorkommt – in Obst und manchen Gemüsen -, gibt er uns eine Form von Energie, die langsam freigesetzt wird und mit Mineralstoffen und diversen wichtigen Mikronährstoffen verbunden ist, die wir von nirgendwo anders bekommen können. (Sogar der Honig, die reinste Zuckerform, die in der Natur vorkommt, enthält wertvolle Mikronährstoffe.)
Eine der folgenschwersten Veränderungen der amerikanischen Ernährung seit 1909 (als das US-Landwirtschaftsministerium mit seinen Aufzeichnungen begann) war der Anstieg des von Zuckern stammenden Kalorienanteils: von 13 Prozent auf 20 Prozent. Rechnet man den von Kohlenhydraten stammenden Kalorienanteil (rund 40 Prozent, bzw. zehn Portionen, von denen neun raffiniert sind) dazu, ernähren die Amerikaner sich mindestens zur Hälfte von Zucker in der einen oder anderen Form – von Kalorien, die praktisch nichts liefern außer Energie. Die Energiedichte dieser raffinierten Kohlenhydrate trägt auf zweierlei Weise zu Fettleibigkeit bei: Erstens konsumieren wir sehr viel mehr Kalorien pro Nahrungseinheit; die Ballaststoffe, die aus diesen Lebensmitteln entfernt wurden, sind genau das, was uns ein Sättigungsgefühl vermittelt und normalerweise die Nahrungsaufnahme stoppt. Die rapide Überschwemmung mit Glucose lässt außerdem zweitens die Insulinspiegel in die Höhe schnellen und abrupt wieder fallen, sobald die Zellen diese ganze Glucose aus dem Verkehr gezogen haben, und dann meinen wir, wir müssten wieder etwas essen.
Diese weit verbreitete Beschleunigung der westlichen Ernährung hat uns den sofortigen Zuckerkick verschafft, aber bei vielen Menschen – vor allem solchen, die neu mit ihm in Berührung kommen – bleibt angesichts der Rasanz des Prozesses die Fähigkeit des Insulins auf der Strecke, diesen Zucker zu verarbeiten: Einem Typ-2-Diabetes und anderen chronischen Krankheiten, die mit dem metabolischen Syndrom zusammenhängen, sind damit Tür und Tor geöffnet. Ein Ernährungsexperte formulierte es mir gegenüber so: »Wir stecken mitten in einem landesweiten Experiment der Glucose-Fixerei.« Dazu kommt die Fructoseflut, die evolutionär vielleicht noch neuer und dadurch für den menschlichen Stoffwechsel noch heikler ist als all die Glucose.
Es ist wahrscheinlich kein Zufall, dass Typ-2-Diabetes bei Amerikanern europäischer Abstammung prozentual weniger häufig vorkommt. Sie hatten mehr Zeit als andere Ethnien, ihren Stoffwechsel an die schnell freigesetzten Kohlenhydrate zu gewöhnen: Die Umweltbedingungen ihrer Ernährung änderten sich als Erstes. 23 Die erste Begegnung mit dieser Ernährungsform, zum Beispiel wenn an eine traditionellere Ernährung gewöhnte Menschen nach Amerika kommen oder das Fastfood zu ihnen kommt, ist für den Organismus ein Schock. Das meinen die Experten des Gesundheitswesens, wenn sie von einem Ernährungsübergang sprechen – der tödlich sein kann.
Damit haben wir die erste bedeutende Änderung der westlichen Ernährung dingfest gemacht, die mit erklären könnte, warum sie manche Menschen so krank macht: Weil wir bewährte Beziehungen zu den intakten Lebensmitteln, mit denen zusammen wir uns jahrtausendelang
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