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Lebens-Mittel

Lebens-Mittel

Titel: Lebens-Mittel Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Michael Pollan
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sich widersprechen. Die Lipid-Hypothese ist nicht mit der Kohlenhydrat-Hypothese vereinbar; die Theorie, in erster Linie wäre ein Mangel an Omega-3-Fettsäuren an chronischen Krankheiten schuld (nennen wir dies die Neolipid-Hypothese), passt nicht zu der Theorie, wonach die raffinierten Kohlenhydrate eine Schlüsselrolle spielen. Und obwohl Konsens herrscht, dass die Flut der raffinierten Kohlenhydrate wichtige Mikronährstoffe aus der modernen Ernährung verdrängt hat, sind die Wissenschaftler, die unsere gesundheitlichen Probleme einem Defizit an diesen Mikronährstoffen zuschreiben, nicht die gleichen wie die, die vermuten, dass eine mit Zucker vollgepumpte Ernährung zuerst zum metabolischen Syndrom und anschließend zu Diabetes, Herzkrankheiten und Krebs führt. Es ist nur normal, dass Wissenschaftler genauso wie wir alle zu einer einfachen Erklärung tendieren, die alle Probleme abdeckt; deshalb haben einige der leidenschaftlichsten Kritiker der Lipid-Hypothese jetzt die Kohlenhydrat-These mit dem gleichen absolutistischen Eifer übernommen, mit dem sie früher die Anhänger der Lipid-Hypothese verurteilt haben. Ich bin im Laufe meiner Recherchen ausgerechnet von Wissenschaftlern, die mit dem Kohlenhydrat-Lager verbündet sind, davor gewarnt worden, »nicht dem Bann des Omega-3-Kults zu verfallen«. Des Kults ? Die Wissenschaft zeigt sich religiöser, als zu erwarten wäre.
    Womit wir wieder am Anfang wären – auf hoher See verloren in den Strudeln einer sich widersprechenden Wissenschaft.
    Oder doch nicht?
    Es stellt sich nämlich heraus, dass es nicht nötig ist, einer dieser Gedankenschulen ewige Treue zu schwören, wenn wir herausfinden wollen, was wir am besten essen sollen. Schließlich sind das alles nur Theorien, wissenschaftliche Erklärungen für ein empirisches Phänomen, das für sich genommen keinerlei Zweifel unterliegt: Menschen, die eine westliche Ernährungsweise praktizieren, neigen zu einem Komplex chronischer Krankheiten, die Menschen, die sich traditioneller ernähren, selten bekommen. Wissenschaftler können über die diesem Phänomen zugrunde liegenden biologischen Mechanismen behaupten, was sie wollen; egal was es ist, die Lösung des Problems bleibt sich ziemlich gleich: Verbannen Sie die westliche Ernährung von Ihrem Tisch.
    In Wahrheit haben nicht die Esser den Hauptnutzen von all diesen Ernährungstheorien (die höchstens unseren Wissensdurst befriedigen), sondern die Lebensmittel- und die Gesundheitsbranche. Die Lebensmittelbranche braucht Theorien, um einzelne weiterverarbeitete Nahrungsmittel besser umbauen zu können; eine neue Theorie bedeutet eine neue Produktlinie, was der Industrie erlaubt, weiter an der westlichen Ernährung herumzudoktern, statt ihr Geschäftsmodell radikal zu verändern. Der Industrie ist es natürlich lieber, wissenschaftliche Gründe für eine noch stärkere Bearbeitung von Nahrungsmitteln zu haben – Fett oder Kohlenhydrate zu reduzieren, den Omega-3-Anteil zu erhöhen, Antioxidanzien oder Probiotika zuzusetzen -, als ernsthaft die Aussage in Erwägung zu ziehen, die weiterverarbeiteten Nahrungsmittel an sich wären ein großer Teil des Problems.
    Auch in der Gesundheitsbranche halten wissenschaftliche Ernährungstheorien das Tagesgeschäft am Laufen. Neue Theorien generieren neue Medikamente zur Behandlung von Diabetes, Bluthochdruck und Cholesterinämie, neue Behandlungen und Verfahren zur Verbesserung chronischer Krankheiten und neue Diätformen, die sich um jede neue Theorie ranken, die eine Nährstoffkategorie auf- oder absteigen lässt. Es mangelt nicht an Lippenbekenntnissen über die Wichtigkeit der Vorbeugung, aber neue Arzneien und Verfahren zur Behandlung chronischer Krankheiten bescheren der Gesundheitsindustrie – die nicht umsonst das Wort »Industrie« im Namen trägt – größere Gewinne als eine umfassende Veränderung der Ernährungsgewohnheiten. Zynisch? Vielleicht. Man könnte einwenden, die Bereitschaft der Gesundheitsbranche, die westliche Ernährung im Großen und Ganzen als gegeben zu behandeln, wäre eher ein Zeichen für ihren Realismus als für ihre Gier. »Die Leute wollen das nicht«, hatte etwa Walter Willett dem Kritiker entgegnet, der ihn fragte, warum in der Nurses’ Health Study die Vorteile alternativer Ernährungsformen nicht untersucht worden waren. Allerdings kann man von einem Gesundheitswesen, das im Hinblick auf Temperament, Philosophie und Ökonomie mit dem Nutritionismus sympathisiert, wohl nichts

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