Lebensbilder I (German Edition)
kein Kind mehr! Du wundertest dich, daß ich so schnell herangewachsen: ach, Kummer macht vor der Zeit alt; schon damals liebte ich dich, und in der Pension sah jeder es mir an, welch ein tiefer Schmerz mein junges Herz belastete. Hier hast du die Lösung dessen, was du ein Wunder nanntest.«
Allmählich war Raphaels Unmut in Verwunderung übergegangen. Sie hatte sich vom Sitze erhoben, in leichter, anmutiger Stellung stand sie vor ihm, blickte wehmütig und mit feuchten Augen ihn an, und er hatte die Hände gefaltet und betrachtete sie staunend und andächtig.
»Laß mich dir alles sagen«, fuhr Pauline bittend fort. »Ich durfte als Reformierte an dem Religionsunterricht nicht teilnehmen, aber ein würdiger Greis, ein Schweizer, schon unter Ludwig XV. Prediger der reformierten Gemeinde, belehrte mich und noch zwei andere Kinder. Er erzählte uns die Geschichte des Heilands und der Apostel. Oh, das sind andere Geschichten, als du samt deinen deutschen Dichtern je zuwege bringen wirst. Ich war getröstet, ich konnte andächtig weinen und beten. Meinem alten achtzigjährigen Lehrer fiel es auf, ein Kind so tief ergriffen zu sehen. Er fragte mich in der Beichte. Du warst damals unerklärlich verschwunden, meine Mutter sprach – o mich schaudert's! – von deinem Selbstmord! – Ich hatte keine Ruhe mehr, ich durchsuchte deine Papiere, ich fand dein Leben verzeichnet, deine Liebe zu einer gewissen russischen Fürstin. Hatte ich mich getäuscht, Raphael? Warst du jener Unglückliche nicht, den ich bei deinem Märchen in dir erkannte? – Jetzt, Raphael, vergib – die Angst um dich und deine Seele bewog mich, dein Geheimnis zu entweihen. Mein Lehrer erhielt deine Papiere und – verdammte dich. Er sprach viele harte Worte, die mich beben machten. Mit tausend Tränen flehte ich um Gnade für dich, als hinge es an seinem Ausspruche, daß Gott die Seligkeit dir wieder schenke. So wunderwirkend ist der Mund, der zuerst das Heil uns lehrt. Er fragte mich mit scharfem Ernst: ob ich dich, ob ich jene Fürstin nicht hasse. Ich gestand ihm, daß ich um so mehr dich liebe, je unglücklicher du seiest; die Fürstin kannte ich nicht, und sie kannte dich nicht, weil sie so unglücklich dich machte. – Sei getrost, mein Kind, sagte mein Lehrer, du bist eine bessere Christin als ich, denn Gott ist den Kindern und Weibern am nächsten; du liebst ihn und die Menschen auf rechte Art. Da beschloß ich, alle Menschen zu lieben; dich aber liebte ich vor allen mehr als die Mutter selbst.«
Bei diesen Worten brachen Tränen aus ihren Augen. Sie hatte mit der Linken Raphaels Nacken umschlungen, die Rechte auf sein Herz gelegt, als wollte sie dessen Schläge erforschen. Jetzt verbarg sie ihr weinendes Haupt an seiner Schulter. Tiefgerührt umschlang sie Raphael.
»Weiter, weiter, du Engel!« flehte er.
Pauline faßte sich; Begeisterung hatte ihre Wangen gerötet, ein sanftes Feuer leuchtete aus den Augen, und Tränen hingen an den langen Wimpern. Sie fuhr fort: »Antworte mir, was hältst du vom Christentum?«
Raphael gehorchte ehrfurchtsvoll. »Es ist im höchsten Sinne des Wortes«, sagte er, »die Poesie der Poesien, die Religion der Religionen, denn Religion und Poesie sind Glaube. Die Antike vergöttert nur den Körper, die Romantik nur die Schöpfung, das Christentum aber macht das Innere, des Herz der Menschen zum Gott. Es ist die Lehre der Gottähnlichkeit.«
»Und laß mich hinzufügen«, fragte Pauline. »liebst du ihn selbst nicht? – Du liebst ja den Shakespeare, den du nie gekannt, weil er so weise ist und edel; liebst du Christus nicht, der edler, weiser, besser war?«
»Weiter, Engel!« rief Raphael, »du sprichst wunderbar.«
»Ist er dir mehr Freund und Vater nicht als irgendein Mensch? Oh, mein Lehrer hatte recht zu sagen: Ihr Dichter seid Dämonen, die stets des Daseins Klage wider Gott erheben, die in Schmerzen wühlen, spitzfindig und dialektisch Unglück schaffen und sich in erdachtem Weh begeistern. – Jedes Wort des Heilandes widerlegt sie, und wenn sie nächtig klagend durch Paris wandeln, wo ein Haus zwanzig Familienschicksale in sich begreift, wo in manchen verdunkelten Fenstern das Leid und die Sorge ausschläft, wo zeigt sich ihnen eine Mauer, hinter welcher das Elend lebt, dessen Klage sie führen? Aber freilich, es sind alles Philister, sie wissen nichts von Kunst! So sprach mein Lehrer! Hatte er recht? – Ich will deine Kunst nicht tadeln, nur reiß dich los von der Gefühlsunreinheit, in der du zu
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